Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)

Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)

Titel: Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.M. Coetzee
Vom Netzwerk:
zurechtrücken, wenn sie sich der Gestalt unseres Körpers anpassen, und ihr Rascheln hören können, wo wir die Verbindung mit der Sache selbst verlieren würden – mit der Nahrung, die uns am Leben erhält.
    Warum bist du so sicher, dass wir gerettet werden müssen, Simón? Glaubst du denn, wir führten das Leben von Schauerleuten, weil wir für zu dumm befunden wurden, etwas anderes zu tun – zu dumm, um eine Pumpe zu montieren oder einen Lastwagen zu fahren? Natürlich nicht. Du kennst uns inzwischen. Du bist unser Freund, unser Kamerad. Wir sind nicht dumm. Wenn wir Rettung nötig gehabt hätten, hätten wir uns mittlerweile selbst gerettet. Nein, nicht wir sind dumm, es ist die schlaue Argumentation, auf die du vertraust, die dumm ist, die dir die falschen Antworten liefert. Das ist unser Hafen, unser Kai – richtig?« Er blickt nach links und rechts; die Männer murmeln zustimmend. »Hier ist kein Platz für Schlaumeierei, nur für die Sache selbst.«
    Er traut seinen Ohren nicht. Er kann nicht glauben, dass die Person, die diesen aufklärungsfeindlichen Nonsens von sich gibt, sein Freund Álvaro ist. Und die übrige Mannschaft scheint fest hinter ihm zu stehen – intelligente junge Männer, mit denen er jeden Tag über Wahrheit und Anschein, Recht und Unrecht diskutiert. Wenn er sie nicht gerne hätte, würde er einfach davongehen – davongehen und sie ihrer vergeblichen Arbeit überlassen. Doch sie sind seine Kameraden, denen er wohl will, denen gegenüber er die Pflicht hat, sie davon zu überzeugen, dass sie auf dem falschen Weg sind.
    »Hör dir doch zu, Álvaro«, sagt er. »Die Sache selbst. Glaubst du etwa, die Sache bleibt immer gleich, unverändert? Nein. Alles fließt. Hast du das vergessen, als du über den Ozean hierhergekommen bist? Die Wasser des Ozeans fließen und beim Fließen verändern sie sich. Du kannst nicht zweimal in dasselbe Gewässer tauchen. Wie die Fische im Meer leben, so leben wir in der Zeit und müssen uns mit der Zeit verändern. Egal wie sehr wir uns verpflichten, der ehrenhaften Tradition der Schauerleute treu zu bleiben, am Ende werden wir vom Wandel überrollt werden. Der Wandel ist wie die steigende Flut. Man kann Barrieren errichten, aber sie wird stets durch die Ritzen einsickern.«
    Die Männer sind inzwischen näher gerückt und bilden einen Halbkreis um Álvaro und ihn. In ihrer Haltung kann er keine Feindseligkeit entdecken. Im Gegenteil, er fühlt sich auf stille Weise angefeuert, angefeuert, seine besten Argumente vorzubringen.
    »Ich versuche nicht, euch zu retten«, sagt er. »Ich bin nichts Besonderes, ich behaupte nicht, eines Menschen Retter zu sein. Wie ihr auch bin ich über den Ozean gekommen. Wie ihr bringe ich keine Geschichte mit. Die Geschichte, die ich hatte, habe ich zurückgelassen. Ich bin einfach ein neuer Mann in einem neuen Land, und das ist eine gute Sache. Aber ich habe die Idee der Geschichte nicht fallen gelassen, die Idee des Wandels ohne Anfang und Ende. Ideen können nicht aus uns herausgewaschen werden, nicht einmal durch die Zeit. Ideen sind überall. Das Universum ist durchdrungen von ihnen. Ohne sie gäbe es kein Universum, denn dann gäbe es kein Sein.
    Die Idee der Gerechtigkeit, zum Beispiel. Wir alle wünschen uns, in einer gerechten Ordnung zu leben, einer Ordnung, in der ehrliche harte Arbeit angemessen belohnt wird; und das ist ein guter Wunsch, gut und bewundernswert. Aber was wir hier im Hafen tun, wird nicht dazu beitragen, dieses System zu schaffen. Was wir hier tun, läuft auf nichts anderes hinaus als auf ein Schauspiel heroischer Arbeit. Und dieses Schauspiel ist angewiesen auf eine Armee von Ratten, um am Laufen gehalten zu werden – Ratten, die Tag und Nacht arbeiten und diese Tonnen von Korn, die wir ausladen, hinunterschlingen, um Platz für mehr Korn im Speicher zu machen. Ohne die Ratten würde die Sinnlosigkeit unserer Arbeit offenbar.« Er macht eine Pause. Die Männer schweigen. »Seht ihr das denn nicht?«, sagt er. »Seid ihr blind?«
    Álvaro blickt in die Runde. »Der Geist der Agora«, sagt er. »Wer will unserem redegewandten Freund antworten?«
    Einer der jungen Schauerleute hebt die Hand. Álvaro nickt ihm zu.
    »Unser Freund beschwört das Konzept des Realen auf verwirrende Art«, sagt der junge Mann, fließend und selbstsicher redend wie ein Musterstudent. »Um seine Verwirrung zu demonstrieren, wollen wir einmal die Geschichte mit dem Klima vergleichen. Das Klima, in dem wir leben, ist größer

Weitere Kostenlose Bücher