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Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)

Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)

Titel: Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.M. Coetzee
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du gern in einem Büro arbeiten? Glaubst du, Büroarbeit sei für einen Mann die bessere Arbeit? Oder vielleicht die Arbeit in einer Fabrik?«
    »Nein«, antwortet er. »Entschieden nein. Versteht mich bitte nicht falsch. An und für sich ist das, was wir hier tun, gute Arbeit, ehrliche Arbeit. Aber darüber haben Álvaro und ich nicht diskutiert. Wir haben über das Ziel unserer Arbeit diskutiert, das letztendliche Ziel. Ich würde nicht im Traum unsere Arbeit herabsetzen. Im Gegenteil, sie bedeutet mir sehr viel. Eigentlich« – er verliert den Faden, aber das ist egal – »möchte ich nirgendwo sonst lieber sein als hier und Seite an Seite mit euch arbeiten. Während der Zeit, die ich hier verbracht habe, habe ich nichts als kameradschaftliche Unterstützung und kameradschaftliche Liebe erlebt. Das hat meine Tage verschönt. Dadurch wurde es möglich –«
    Ungeduldig unterbricht ihn Eugenio: »Dann hast du dir doch bestimmt deine eigene Frage beantwortet. Stell dir vor, du hättest keine Arbeit. Stell dir vor, du müsstest deine Tage damit zubringen, auf einer Parkbank zu sitzen und nichts zu tun, als darauf zu warten, dass die Stunden vergehen, ohne Kameraden um dich, mit denen du einen Scherz teilen kannst, ohne die Unterstützung dir wohlgesinnter Kameraden. Ohne Arbeit, und gemeinsam getane Arbeit, ist Kameradschaft nicht möglich, bedeutet sie nichts mehr.« Er dreht sich um und blickt in die Runde. »Ist es nicht so, Kameraden?«
    Zustimmendes Gemurmel.
    »Aber wie steht’s mit Fußball?«, erwidert er, eine andere Richtung einschlagend, doch ohne Zuversicht. »Bestimmt würden wir uns doch lieben und unterstützen, wenn wir zu einer Fußballmannschaft gehören würden, wenn wir zusammen spielen, zusammen gewinnen, zusammen verlieren würden. Wenn kameradschaftliche Liebe das oberste Ziel ist, warum müssen wir dann diese schweren Getreidesäcke tragen, warum nicht einfach einen Fußball kicken?«
    »Weil du von Fußball allein nicht leben kannst«, sagt Álvaro. »Um Fußball spielen zu können, musst du lebendig sein; und um lebendig zu sein, musst du essen. Durch unsere Arbeit hier ermöglichen wir Menschen zu leben.« Er schüttelt den Kopf. »Je länger ich darüber nachdenke, desto überzeugter bin ich, dass man Arbeit nicht mit Fußball vergleichen kann, dass die beiden zu unterschiedlichen philosophischen Bereichen gehören. Ich verstehe nicht, ich verstehe wirklich nicht, warum du unsere Arbeit auf diese Weise herabsetzen willst.«
    Alle Augen sind auf ihn gerichtet. Es herrscht ein ernstes Schweigen.
    »Glaubt mir, ich will unsere Arbeit nicht herabsetzen. Um zu beweisen, dass ich es ernst meine, werde ich morgen eine Stunde früher zur Arbeit kommen und auch meine Mittagspause verkürzen. Ich werde so viele Säcke pro Tag transportieren wie jeder andere Mann hier. Aber ich werde weiter fragen: Warum tun wir das? Und wofür?«
    Álvaro tritt vor, legt einen muskulösen Arm um ihn. »Heroische Arbeitsleistungen sind nicht nötig, mein Freund«, sagt er. »Wir wissen, dass du das Herz auf dem rechten Fleck hast, du musst dich nicht beweisen.« Und auch andere Männer kommen heran, um ihm auf die Schulter zu klopfen oder ihn zu umarmen. Er lächelt jedermann an; Tränen treten ihm in die Augen; er kann nicht aufhören zu lächeln.
    »Unseren Hauptspeicher hast du noch nicht gesehen, oder?«, sagt Álvaro, der noch immer seine Hand gepackt hält.
    »Nein.«
    »Das ist eine beeindruckende Anlage, wenn ich selbst so sagen darf. Warum ihm nicht mal einen Besuch abstatten? Du kannst jetzt gleich hin, wenn du möchtest.« Er wendet sich an den Kutscher, der auf seinem Sitz zusammengesunken darauf wartet, dass die Debatte der Schauerleute vorbei ist. »Unser Kamerad kann doch mit dir zum Speicher fahren? Ja, natürlich. Komm!« – er hilft ihm, hoch zum Kutscher zu klettern – »vielleicht wirst du unsere Arbeit mehr schätzen, wenn du dir erst einmal den Speicher angesehen hast.«
    Der Speicher ist weiter weg von den Kais, als er erwartet hatte, am Südufer bei der Biegung des Flusses, wo er allmählich schmaler wird. Im gemächlichen Tempo – der Kutscher hat eine Peitsche, benutzt sie aber nicht, schnalzt den Pferden nur hin und wieder zu, um sie zu ermuntern – brauchen sie fast eine Stunde, um dorthin zu kommen, und während dieser Zeit fällt kein Wort.
    Der Speicher steht allein auf einem Feld. Er ist riesig, groß wie ein Fußballplatz und hoch wie ein zweistöckiges Haus, mit großen

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