Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)
Schiebetüren, durch die der beladene Pferdewagen mühelos fährt.
Der Arbeitstag ist offenbar vorüber, denn es ist keine Mannschaft zum Ausladen da. Während der Kutscher den Wagen neben die Laderampe manövriert und sich anschickt, die Pferde auszuspannen, wandert er tiefer in das große Bauwerk hinein. Licht, das durch Spalten zwischen Wand und Dach hereinsickert, lässt meterhoch aufgestapelte Säcke erkennen, Berg auf Berg an Korn, bis hinten in die dunklen Winkel. Müßig versucht er die Rechnung aufzumachen, verliert aber den Faden. Eine Million Säcke mindestens, vielleicht mehrere Millionen. Gibt es denn genug Müller in Novilla, um all dieses Korn zu mahlen, genug Bäcker, um es zu verbacken, genug Münder, um es zu essen?
Unter den Füßen knirscht es trocken: verschüttetes Korn. Etwas Weiches prallt gegen seinen Knöchel, und unwillkürlich tritt er dagegen. Ein Gequieke; plötzlich bemerkt er ein unterdrücktes Gewisper um sich herum, wie das Geräusch von fließendem Wasser. Er stößt einen Schrei aus. Der Boden um ihn wogt vor Leben. Ratten! Überall Ratten!
»Hier sind überall Ratten!«, ruft er, eilt zurück und steht dem Kutscher und dem Pförtner gegenüber. »Auf dem Boden ist überall Korn, und ihr habt eine Rattenplage! Es ist widerlich!«
Die beiden wechseln einen Blick. »Ja, wir haben genug Ratten«, sagt der Pförtner. »Auch Mäuse. Mehr als man zählen kann.«
»Und ihr unternehmt nichts dagegen? Es ist unhygienisch! Sie nisten in der Nahrung, verunreinigen sie!«
Der Pförtner zuckt mit den Schultern. »Was sollen wir denn machen? Wo Korn ist, sind auch Nager. So ist die Welt. Wir haben es mit Katzen versucht, aber die Ratten sind inzwischen ganz ohne Furcht, und es gibt sowieso zu viele von ihnen.«
»Das ist kein Argument. Man könnte Fallen aufstellen. Man könnte Giftköder auslegen. Man könnte das Gebäude begasen.«
»Man kann nicht giftige Gase in einen Nahrungsmittelspeicher pumpen – nehmen Sie Vernunft an! Und nun, wenn Sie gestatten, muss ich zuschließen.«
Als Erstes am nächsten Morgen bringt er die Angelegenheit Álvaro gegenüber zur Sprache. »Du prahlst mit dem Speicher, aber bist du selbst schon mal dort gewesen? Dort wimmelt es von Ratten. Worauf kann man stolz sein, wenn man arbeitet, um ein Heer von Schädlingen zu füttern? Es ist nicht nur absurd, es ist irrsinnig.«
Álvaro bedenkt ihn mit einem milden und aufreizenden Lächeln. »Wo Schiffe sind, gibt es auch Ratten. Wo Speicher sind, gibt es Ratten. Wo unsere Spezies gedeiht, gedeihen auch Ratten. Ratten sind intelligente Geschöpfe. Man könnte behaupten, sie sind unser Schatten. Ja, sie vertilgen etwas von dem Korn, das wir entladen. Ja, im Speicher gibt es Verluste. Aber Verluste gibt es auf der ganzen Wegstrecke: auf den Feldern, in den Zügen, in den Schiffen, in den Speichern, in den Lagern der Bäckereien. Es lohnt sich nicht, sich über Verluste aufzuregen. Verluste gehören einfach zum Leben.«
»Nur weil Verluste zum Leben dazugehören, heißt das nicht, dass wir sie nicht bekämpfen können! Warum Korn tonnenweise, in einer Menge von Tausenden von Tonnen, in rattenverseuchten Speichern lagern? Warum nicht gerade so viel importieren, dass es unseren Bedarf deckt, von einem Monat zum anderen? Und warum kann der ganze Umladungsprozess nicht effektiver organisiert werden? Warum müssen wir Pferde und Wagen benutzen, wenn wir Lastwagen benutzen könnten? Warum muss das Korn in Säcken kommen und auf dem Rücken von Männern transportiert werden? Warum kann es nicht einfach am anderen Ende in den Laderaum geschüttet und an unserem Ende hier durch eine Rohrleitung herausgepumpt werden?«
Álvaro denkt lange darüber nach, ehe er antwortet. »Was, glaubst du, würde aus uns allen, Simón, wenn das Korn in der Masse herausgepumpt wird, wie du vorschlägst? Was würde aus den Pferden? Was würde aus El Rey?«
»Für uns gäbe es hier im Hafen keine Arbeit mehr«, antwortet er. »Das gebe ich zu. Aber stattdessen würden wir uns mit der Montage von Pumpen beschäftigen oder Lastwagen fahren. Wir hätten alle Arbeit, wie vorher auch, es wäre nur eine andere Art von Arbeit, zu der Intelligenz nötig wäre, nicht nur rohe Kraft.«
»Du möchtest uns also befreien von einem Leben voll barbarischer Schufterei. Du möchtest, dass wir die Kais verlassen und eine andere Arbeit finden, wo wir uns nicht länger eine Last auf die Schultern laden und fühlen können, wie sich die Ähren im Sack
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