Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)
als wir, darauf können wir uns verständigen. Keiner von uns kann bestimmen, wie das Klima sein soll. Aber es ist nicht die Eigenschaft des Größerseins als wir, die das Klima real macht. Das Klima ist real, weil es reale Erscheinungsformen hat. Zu diesen Erscheinungsformen gehören Wind und Regen. Wenn es regnet, werden wir nass; wenn der Wind auffrischt, bläst er uns die Mützen vom Kopf. Regen und Wind sind vorübergehende, zweitrangige Realitäten, wie sie unsere Sinne erfassen können. Über ihnen in der Hierarchie des Realen ist das Klima.
Betrachten wir nun die Geschichte. Wenn die Geschichte, wie das Klima, eine höhere Realität wäre, dann hätte die Geschichte Erscheinungsformen, die wir mit Hilfe unserer Sinne wahrnehmen könnten. Aber wo sind diese Erscheinungsformen?« Er schaut in die Runde. »Wem von uns ist jemals von der Geschichte die Mütze davongeblasen worden?« Schweigen. »Keinem. Weil die Geschichte keine Erscheinungsformen hat. Weil die Geschichte nicht real ist. Weil die Geschichte nur eine erfundene Erzählung ist.«
»Um genauer zu sein« – es spricht Eugenio, der gestern wissen wollte, ob er lieber in einem Büro arbeiten würde –, »weil die Geschichte keine Erscheinungsformen in der Gegenwart hat. Geschichte ist nur ein Muster, das wir in Vergangenem sehen. Sie hat keine Macht, in die Gegenwart hineinzureichen.
Unser Freund Simón sagt, wir sollten uns Maschinen anschaffen, damit sie die Arbeit für uns tun, weil es die Geschichte so verfügt. Aber es ist nicht die Geschichte, die uns sagt, dass wir ehrliche Arbeit aufgeben sollen, es ist der Müßiggang und die Verlockung des Müßiggangs. Der Müßiggang ist auf eine Weise real, wie es die Geschichte nicht ist. Wir spüren ihn mit unseren Sinnen. Wir spüren seine Erscheinungsformen jedes Mal, wenn wir uns aufs Gras legen, die Augen schließen und schwören, nie wieder aufzustehen, selbst wenn die Pfeife ertönt, so sehr genießen wir es. Wer von uns, der an einem sonnigen Tag auf der Wiese faulenzt, wird sagen:
Ich spüre, wie die Geschichte in meinen Knochen mir sagt, ich soll nicht aufstehen?
Nein: es ist der Müßiggang, den wir in unseren Knochen spüren. Deshalb haben wir das Sprichwort:
Er hat keinen müßigen Knochen im Leib.
«
Während Eugenio spricht, hat er sich immer mehr erregt. Vielleicht aus Besorgnis, er werde nie wieder aufhören, unterbrechen ihn seine Kameraden mit Beifall. Er hält inne, und Álvaro ergreift die Gelegenheit. »Ich weiß nicht, ob unser Freund Simón antworten möchte«, sagt er. »Unser Freund hat unsere Arbeit hier als sinnloses Schauspiel abgetan, eine Bemerkung, die einige von uns vielleicht verletzend fanden. Wenn die Bemerkung nur unüberlegt war, wenn er sie bei weiterem Nachdenken zurücknehmen oder ergänzen möchte, dann würde die Geste sicher begrüßt werden.«
Er ist an der Reihe. Die Stimmung ist gegen ihn, unverkennbar. Will er wirklich Widerstand leisten?
»Natürlich ziehe ich meine unbedachte Bemerkung zurück«, sagt er, »und entschuldige mich obendrein, wenn ich damit jemanden verletzt haben sollte. Was die Geschichte angeht, kann ich nur sagen, während wir uns heute weigern, sie zu beachten, können wir uns nicht ewig weigern. Deshalb habe ich einen Vorschlag. Lasst uns in zehn Jahren, oder auch in fünf Jahren, hier auf diesem Kai wieder zusammenkommen und sehen, ob Korn immer noch von Hand entladen und in Säcken in einem offenen Speicher aufbewahrt wird, um dem Unterhalt unserer Feinde, der Ratten, zu dienen. Ich vermute, dass es nicht so sein wird.«
»Und was ist, wenn sich herausstellt, dass du nicht recht hast?«, fragt Álvaro. »Wenn wir in zehn Jahren das Korn immer noch genauso entladen wie heute, wirst du dann zugeben, dass die Geschichte nicht real ist?«
»Jawohl, das werde ich«, erwidert er. »Ich werde mich vor der Macht des Realen verneigen. Ich werde es nennen: mich dem Urteil der Geschichte beugen.«
Fünfzehn
N ach seiner Rede gegen die Ratten spürt er eine Weile lang, dass die Atmosphäre am Arbeitsplatz angespannt ist. Obwohl seine Kameraden freundlich wie immer sind, scheinen alle zu verstummen, wenn er in der Nähe ist.
Und in der Tat, wenn er an seinen Ausbruch zurückdenkt, errötet er vor Scham. Wie hatte er die Arbeit, auf die seine Freunde so stolz sind, so herabsetzen können, eine Arbeit, an der er teilhaben darf, wofür er dankbar ist?
Aber dann wird es allmählich wieder entspannter. Während einer Vormittagspause kommt
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