Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)
diesem Land, wo ich keinen kenne, wo ich meine innersten Gefühle nicht ausdrücken kann, weil alle menschlichen Beziehungen in einem Anfänger-Spanisch gestaltet werden müssen? Bin ich etwa hergekommen, um schwere Säcke zu schleppen, tagein, tagaus, wie ein Lasttier? Nein, ich bin gekommen, um das Kind zu seiner Mutter zu bringen, und das ist nun geschehen.«
Elena lacht. »Dein Spanisch wird besser, wenn du die Geduld verlierst. Vielleicht solltest du öfter die Geduld verlieren. Lass uns festhalten, dass wir uns über Inés nicht einigen können. Und was das Übrige angeht, so ist die Wahrheit, dass wir nicht hier sind, du und ich, um ein glückliches und erfülltes Leben zu führen. Wir sind hier zum Wohl unserer Kinder. Wir fühlen uns vielleicht im Spanischen nicht zu Hause, aber David und Fidel werden es tun. Es wird ihre Muttersprache sein. Sie werden sie ganz natürlich sprechen, aus ihrem Herzen heraus. Und äußere dich nicht verächtlich über die Arbeit, die du im Hafen tust. Du bist nackt in diesem Land angekommen, hattest nichts zu bieten außer der Arbeit deiner Hände. Man hätte dich abweisen können, es geschah jedoch nicht – du wurdest willkommen geheißen. Man hätte dich unter den Sternen aussetzen können, es geschah jedoch nicht – du bekamst ein Dach über dem Kopf. Du hast viel, wofür du dankbar sein kannst.«
Er schweigt. Schließlich spricht er. »Ist die Predigt zu Ende?«
»Ja.«
Vierzehn
V ier Uhr, und die letzten Säcke aus dem Frachter beim Kai Zwei werden auf den Pferdewagen geladen. El Rey und ihr Gefährte sind angeschirrt und malmen friedlich in ihren Futtersäcken.
Álvaro streckt die Arme und lächelt ihn an. »Wieder eine Arbeit geschafft«, sagt er. »Gibt ein gutes Gefühl, stimmt’s?«
»Stimmt wohl. Ich frage mich aber weiter, warum die Stadt soviel Getreide benötigt, Woche für Woche.«
»Es ist Nahrung. Ohne Nahrung kommen wir nicht aus. Und es ist nicht nur für Novilla. Es ist auch für das Hinterland. Wenn man ein Hafen ist, bedeutet das: Man muss ein Hinterland versorgen.«
»Trotzdem, wofür das Ganze, letzten Endes? Die Schiffe bringen das Getreide von Übersee und wir holen es aus den Schiffen und ein anderer mahlt und bäckt es, und schließlich wird es gegessen und umgewandelt in – wie soll ich es nennen? – Ausscheidungsprodukte, und die fließen zurück ins Meer. Was ist daran, um sich gut zu fühlen? Wie fügt sich das in einen größeren Zusammenhang? Ich erkenne keinen größeren Zusammenhang, keinen höheren Plan. Es ist nur Konsum.«
»Du hast heute schlechte Laune! Es braucht bestimmt keinen höheren Plan, um zu rechtfertigen, dass wir Teil des Lebens sind. Das Leben an sich ist gut; wenn man dazu beiträgt, dass Nahrung verteilt wird, damit die Mitmenschen leben können, ist das doppelt gut. Wie kannst du das anzweifeln? Und überhaupt, was hast du gegen Brot? Denke daran, was der Dichter gesagt hat: Durch das Brot empfängt unser Körper die Sonne.«
»Ich möchte mich nicht streiten, Álvaro, aber objektiv gesehen tue ich nichts anderes, tun alle Hafenarbeiter nichts anderes als Material von Punkt A nach Punkt B zu bewegen, einen Sack nach dem anderen, Tag für Tag. Wenn all unser Schweiß für eine höhere Sache vergossen würde, wäre das etwas anderes. Aber essen, um zu leben, und leben, um zu essen – das ist die Lebensweise des Bakteriums, nicht des …«
»Nicht was?«
»Nicht des Menschen. Der Krone der Schöpfung.«
Gewöhnlich sind die Mittagspausen philosophischen Diskussionen gewidmet – sterben wir und werden wir endlos wiedergeboren? Drehen sich die entfernteren Planeten um die Sonne oder einer wechselseitig um den anderen? Ist das hier die beste aller Welten? –, doch heute kommen etliche Schauerleute herüber, um der Debatte zuzuhören, statt sich auf den Heimweg zu begeben. An sie wendet sich nun Álvaro. »Was sagt ihr dazu, Kameraden? Brauchen wir einen großartigen Plan, wie unser Freund fordert, oder ist es gut genug für uns, wenn wir unsere Arbeit tun und sie gut tun?«
Man schweigt. Von Anfang an haben die Männer ihn, Simón, respektvoll behandelt. Für einige ist er alt genug, um ihr Vater zu sein. Doch sie respektieren auch ihren Vorarbeiter, verehren ihn sogar. Es ist klar, dass sie nicht Partei ergreifen wollen.
»Wenn du die Arbeit, die wir machen, nicht magst, wenn du sie nicht gut findest«, sagt einer von ihnen – es ist Eugenio –, »welche Arbeit möchtest du dann lieber machen? Würdest
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