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Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)

Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)

Titel: Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.M. Coetzee
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wie zum Gähnen. Der Mantel öffnet sich am Hals; er erhascht einen Blick auf die Brüste, die er so bewundert hatte. »Sie sollten mitmachen. Wenn Sie mehr über den Körper lernen wollen, gibt es keinen besseren Weg.« Und dann, ehe er noch seine Verwirrung überwinden kann: »Auf Wiedersehen – ich bin spät dran. Grüßen Sie Ihren Sohn.«
    Er geht den leeren Korridor hinunter. Das Institut ist größer, als er von außen angenommen hatte. Hinter einer verschlossenen Tür dringt Musik hervor, eine Frau singt klagend zur Begleitung einer Harfe. Er bleibt vor einer Anzeigentafel stehen. Eine lange Liste von Kursen ist im Angebot. Architekturzeichnen. Buchhaltung. Rechnen. Ein Kurs nach dem anderen in Spanisch: Spanisch für Anfänger (zwölf Teile), Spanisch für fortgeschrittene Anfänger (fünf Teile), Spanisch für Fortgeschrittene, Textverfassen in Spanisch, Spanische Konversation. Er hätte hierherkommen sollen, statt sich ganz allein mit der Sprache abzumühen. Spanische Literatur kann er nicht entdecken. Aber vielleicht fällt Literatur unter Spanisch für Fortgeschrittene.
    Keine anderen Sprachkurse. Kein Portugiesisch. Kein Katalanisch. Kein Galizisch. Kein Baskisch.
    Kein Esperanto. Kein Volapük.
    Er sucht nach Aktzeichnen. Da ist es: Aktzeichnen, montags bis freitags 19 – 21 Uhr, samstags 14 – 16 Uhr; Anmeldung ab Teil 12 ; Teil 1 AUSGEBUCHT , Teil 2 AUSGEBUCHT , Teil 3 AUSGEBUCHT . Offensichtlich ein beliebter Kurs.
    Kalligraphie. Weben. Korbflechterei. Blumenarrangement. Töpfern. Puppenspiel.
    Philosophie. Elemente der Philosophie. Philosophie: Ausgewählte Themen. Philosophie der Arbeit. Philosophie und Alltag.
    Eine Glocke ertönt, um die Stunde anzuzeigen. Studenten kommen auf den Korridor hinaus, zuerst in Grüppchen, dann in Massen, nicht nur junges Volk, sondern auch Personen in seinem Alter und noch Ältere, genau wie Eugenio gesagt hat. Kein Wunder, dass die Stadt nach Einbruch der Dunkelheit wie ausgestorben ist! Alle sind hier im Institut und bilden sich weiter. Alle sind eifrig dabei, bessere Bürger, bessere Menschen zu werden. Alle außer ihm.
    Jemand ruft ihn. Es ist Eugenio, der aus dem Menschenstrom heraus winkt. »Komm! Wir holen uns was zu essen! Komm doch mit!«
    Er folgt Eugenio eine Treppe hinunter in eine hell erleuchtete Cafeteria. Schon haben sich lange Schlangen von Menschen gebildet, die darauf warten, bedient zu werden. Er nimmt sich ein Tablett und Besteck. »Es ist Mittwoch, das heißt, es gibt Nudeln«, sagt Eugenio. »Magst du Nudeln?«
    »Ja.«
    Sie sind an der Reihe. Er hält einen Teller hin und eine Servierkraft klatscht eine große Portion Spaghetti darauf. Eine zweite Person fügt einen Klacks Tomatensauce hinzu. »Nimm dir auch ein Brötchen«, sagt Eugenio. »Falls du dich satt essen willst.«
    »Wo bezahlen wir?«
    »Wir bezahlen nicht. Es ist umsonst.«
    Sie finden einen Tisch und die anderen jungen Schauerleute schließen sich ihnen an.
    »Wie war euer Kurs?«, fragt er sie. »Habt ihr herausgefunden, was ein Stuhl ist?«
    Es soll ein Scherz sein, aber die jungen Männer starren ihn verständnislos an.
    »Weißt du nicht, was ein Stuhl ist?«, sagt einer von ihnen schließlich. »Schau hinunter. Du sitzt auf einem.« Er blickt in die Gesichter seiner Gefährten. Sie brechen alle in Gelächter aus.
    Er versucht mitzulachen, um zu zeigen, dass er Spaß versteht. »Ich meinte damit«, sagt er, »habt ihr herausgefunden, was einen Stuhl ausmacht … Ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll …«
    »Sillicidad«
, bietet Eugenio an. »Dein Stuhl« – er deutet auf den Stuhl – »verkörpert
Sillicidad
, oder hat teil daran, oder realisiert es, wie unsere Lehrerin gern sagt. Daher weiß man, dass es ein Stuhl ist und kein Tisch.«
    »Oder ein Hocker«, fügt sein Gefährte hinzu.
    »Hat eure Lehrerin euch schon einmal von dem Mann erzählt«, sagt er, Simón, »der, als er gefragt wurde, wie er wisse, dass ein Stuhl ein Stuhl sei, dem besagten Stuhl einen Tritt verpasste und sagte:
Auf diese Weise erkenne ich es, mein Herr

    »Nein«, sagt Eugenio. »Aber so lernt man nicht, dass ein Stuhl ein Stuhl ist. So lernt man, dass er ein Objekt ist. Das Objekt eines Trittes.«
    Er schweigt. Die Wahrheit ist, er ist in diesem Institut fehl am Platz. Philosophieren macht ihn nur ungeduldig. Er hat kein Interesse an Stühlen und dem Stuhlhaften an ihnen.
    Den Spaghetti fehlt Würze. Die Tomatensauce besteht nur aus pürierten Tomaten, aufgewärmt. Er schaut sich

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