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Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)

Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)

Titel: Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.M. Coetzee
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Eugenio zu ihm und bietet ihm eine Tüte. »Kekse«, sagt er. »Nimm einen. Nimm zwei. Ein Geschenk von einem Nachbarn.« Und als er sich anerkennend äußert (die Kekse sind köstlich, er schmeckt Ingwer und vielleicht auch Zimt heraus), fügt Eugenio hinzu: »Weißt du, ich habe über das nachgedacht, was du gestern gesagt hast, und vielleicht hast du nicht ganz Unrecht. Warum sollten wir Ratten füttern, wenn sie nicht zu unserer Ernährung dienen? Es gibt Leute, die Ratten essen, ich aber bestimmt nicht. Und du?«
    »Nein«, sagt er. »Ich esse auch keine Ratten. Ich ziehe deine Kekse unbedingt vor.«
    Am Ende des Arbeitstages kommt Eugenio auf das Thema zurück. »Ich habe mir Sorgen gemacht, dass wir deine Gefühle verletzt haben könnten«, sagt er. »Glaub mir, es war kein böser Wille. Wir alle empfinden größtmögliches Wohlwollen dir gegenüber.«
    »Ich bin überhaupt nicht verletzt«, erwidert er. »Wir hatten eine philosophische Kontroverse, das ist alles.«
    »Eine philosophische Kontroverse«, bekräftigt Eugenio. »Du wohnst doch in der Ostsiedlung? Ich gehe mit dir bis zur Bushaltestelle.« Er muss also Eugenio zur Bushaltestelle begleiten, um die Notlüge aufrechtzuerhalten, dass er in der Siedlung wohnt.
    »Eine Frage hat mich schon länger beschäftigt«, bemerkt er zu Eugenio, während sie auf den Bus Nummer 6 warten. »Sie ist völlig unphilosophisch. Wie verbringt ihr, du und die anderen Männer, eure Freizeit? Ich weiß, dass sich viele von euch für Fußball interessieren, aber was macht ihr an den Abenden? Ihr scheint keine Frauen und Kinder zu haben. Habt ihr Freundinnen? Geht ihr in Klubs? Álvaro hat mir erzählt, es gebe Klubs, in die man eintreten kann.«
    Eugenio wird rot. »Über Klubs weiß ich nichts. Ich gehe meist zum Institut.«
    »Erzähl mir davon. Ich habe schon nebenher vom Institut gehört, aber ich habe keine Vorstellung, was dort stattfindet.«
    »Das Institut bietet Kurse an. Es bietet Vorlesungen, Filme, Diskussionsgruppen. Du solltest beitreten. Es würde dir gefallen. Es ist nicht nur für junge Leute, dort sind auch viele Ältere, und es ist frei. Weißt du, wie du dorthin kommst?«
    »Nein.«
    »Es ist auf der Neuen Straße, in der Nähe der großen Straßenkreuzung. Ein hohes weißes Gebäude mit Glastüren. Du bist wahrscheinlich schon oft vorbeigekommen, ohne es zu bemerken. Komm doch morgen Abend hin. Du kannst dich unserer Gruppe anschließen.«
    »Gut.«
    Wie sich herausstellt, ist der Kurs, bei dem sich Eugenio zusammen mit drei anderen Schauerleuten eingeschrieben hat, über Philosophie. Er nimmt in der hintersten Reihe Platz, abseits der Kameraden, damit er unauffällig hinauskann, wenn es ihm langweilig wird.
    Die Lehrerin kommt und es wird still. Sie ist mittleren Alters, für sein Auge ohne jeglichen Schick gekleidet, mit kurz geschorenem stahlgrauen Haar und ohne Make-up. »Guten Abend«, sagt sie. »Wir wollen dort wieder einsetzen, wo wir vergangene Woche aufgehört haben und unsere Erforschung des Tisches fortsetzen – des Tisches und seines engen Verwandten, des Stuhls. Wie Sie sich sicher erinnern, haben wir die unterschiedlichen Arten von Tischen diskutiert, die es in der Welt gibt, und die unterschiedlichen Arten von Stühlen. Wir haben uns gefragt, was das Verbindende hinter all der Unterschiedlichkeit ist, was aus allen Tischen Tische macht, aus allen Stühlen Stühle.«
    Er steht leise auf und schlüpft aus dem Raum.
    Der Korridor ist leer, abgesehen von einer Gestalt in einem langen weißen Gewand, die schnell auf ihn zukommt. Als die Gestalt näher heran ist, sieht er, dass es keine andere als Ana vom Zentrum ist. »Ana!«, ruft er. »Hallo«, antwortet Ana – »Entschuldigung, ich kann nicht stehen bleiben, ich bin spät dran.« Aber dann bleibt sie doch stehen. »Ich kenne Sie, oder? Ich habe Ihren Namen vergessen.«
    »Simón. Wir sind uns im Zentrum begegnet. Ich hatte einen kleinen Jungen bei mir. Sie haben uns in unserer ersten Nacht in Novilla freundlicherweise Zuflucht gewährt.«
    »Natürlich! Wie geht es Ihrem Sohn?«
    Das weiße Gewand ist eigentlich ein weißer Bademantel; sie ist barfuß. Seltsamer Aufputz. Gibt es einen Swimmingpool im Institut?
    Sie bemerkt seinen verwunderten Blick und lacht. »Ich stehe Modell«, sagt sie. »Zwei Abende in der Woche stehe ich Modell. Für einen Aktzeichenkurs.«
    »Einen Aktzeichenkurs?«
    »Einen Zeichenkurs. Zeichnen nach der Natur. Ich bin das Modell des Kurses.« Sie streckt die Arme

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