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Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)

Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)

Titel: Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.M. Coetzee
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nach einem Salzstreuer um, aber da ist keiner. Auch kein Pfeffer. Aber die Spaghetti sind wenigstens eine Abwechslung. Besser als immerzu nur Brot.
    »Also – für welche Kurse willst du dich denn anmelden?«, fragt Eugenio.
    »Ich habe mich noch nicht entschieden. Ich habe mir die Liste angeschaut. Ein ziemlich breites Angebot. Ich dachte an Aktzeichnen, habe aber festgestellt, dass das schon ausgebucht ist.«
    »Du willst dich also nicht unserem Kurs anschließen. Das ist schade. Die Diskussion wurde interessanter, nachdem du gegangen warst. Wir haben über die Unendlichkeit und die Gefahren der Unendlichkeit gesprochen. Was ist, wenn es jenseits des idealen Stuhls einen weiteren idealen Stuhl gibt, und so immer weiter und weiter? Aber Aktzeichnen ist auch interessant. Du könntest dieses Semester Zeichnen wählen – gewöhnliches Zeichnen. Dann würde deine Anmeldung für das Aktzeichnen im nächsten Semester bevorzugt behandelt werden.«
    »Aktzeichnen ist immer sehr beliebt«, erklärt einer der jungen Männer. »Die Leute wollen etwas über den Körper erfahren.«
    Er sucht nach der Ironie, aber es gibt keine, wie es kein Salz gibt.
    »Wenn du etwas über den menschlichen Körper erfahren willst, wäre dann nicht ein Anatomiekurs besser?«, fragt er.
    Der junge Mann ist anderer Meinung. »Anatomie belehrt nur über die Teile des Körpers. Wenn man etwas über die Gesamtheit erfahren will, dann muss man einen Kurs wie Aktzeichnen oder Modellieren belegen.«
    »Mit der Gesamtheit meinst du …?«
    »Ich meine zuerst den Körper als Körper, dann später den Körper in seiner Idealgestalt.«
    »Würde dich das nicht gewöhnliche Erfahrung lehren? Ich meine, würden dich nicht ein paar Nächte mit einer Frau alles lehren, was du über den Körper als Körper wissen musst?«
    Der junge Mann wird rot und sieht sich hilfesuchend um. Er verflucht sich. Immer seine dummen Scherze!
    »Was den Körper in seiner idealen Gestalt angeht«, lässt er nicht locker, »da müssen wir wahrscheinlich das nächste Leben abwarten, ehe wir das zu sehen bekommen.« Er schiebt die Spaghetti halb gegessen beiseite. Es ist zuviel für ihn, zuviel Fraß. »Ich muss los«, sagt er. »Gute Nacht. Bis morgen im Hafen.«
    »Gute Nacht.« Sie bemühen sich nicht, ihn zurückzuhalten. Und zu Recht. Wie muss er auf sie wirken, auf diese feinen jungen Männer, hart arbeitend, idealistisch, unschuldig? Was könnten sie denn von der verbitterten Stimmung profitieren, die er verbreitet?
     
    »Wie geht es deinem Jungen?«, fragt Álvaro. »Wir vermissen ihn. Hast du eine Schule für ihn gefunden?«
    »Für die Schule ist er noch nicht alt genug. Er ist bei seiner Mutter. Sie will nicht, dass er zu viel Zeit mit mir verbringt. Seine Zuneigung wäre weiterhin gespalten, sagt sie, solange zwei Erwachsene Ansprüche an ihn stellen.«
    »Aber es sind immer zwei Erwachsene, die Ansprüche an uns haben: unser Vater und unsere Mutter. Wir sind keine Bienen oder Ameisen.«
    »Das mag ja sein. Aber ich bin jedenfalls nicht Davids Vater. Seine Mutter ist die Mutter, aber ich bin nicht der Vater. Das ist der Unterschied. Álvaro, das ist ein schmerzliches Thema für mich. Können wir es fallenlassen?«
    Álvaro packt ihn beim Arm. »David ist kein gewöhnlicher Junge. Glaub mir, ich habe ihn beobachtet, ich weiß, wovon ich spreche. Bist du sicher, dass du zu seinem Besten handelst?«
    »Ich habe ihn seiner Mutter übergeben. Er ist in ihrer Obhut. Warum sagst du, er sei kein gewöhnlicher Junge?«
    »Du sagst, du hast ihn übergeben, aber wollte er wirklich übergeben werden? Warum hat ihn seine Mutter zunächst verlassen?«
    »Sie hat ihn nicht verlassen. Sie wurden getrennt. Eine Zeitlang haben sie in einem jeweils anderen Umfeld gelebt. Ich habe ihm geholfen, sie zu finden. Er hat sie gefunden und sie wurden wieder vereint. Jetzt haben sie ein natürliches Verhältnis, das von Mutter und Sohn. Während er und ich kein natürliches Verhältnis haben. Das ist alles.«
    »Wenn dieses Verhältnis mit dir nicht natürlich ist, was dann?«
    »Abstrakt. Er hat ein abstraktes Verhältnis mit mir. Ein Verhältnis mit jemandem, der auf abstrakte Weise für ihn sorgt, aber keine natürliche Verpflichtung dafür hat. Was hast du damit gemeint, dass er kein gewöhnlicher Junge ist?«
    Álvaro schüttelt den Kopf. »Natürlich, abstrakt … Das ergibt für mich keinen Sinn. Was glaubst du denn, wie eine Mutter und ein Vater zunächst zusammenkommen – die Mutter und

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