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Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)

Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)

Titel: Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.M. Coetzee
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nicht mehr sehen, weil sie nicht herauskönnen. Das hast du selber gesagt.«
    »Jetzt verwechselst du Risse mit Löchern. Du denkst daran, dass Menschen sterben und in Gräbern beerdigt werden, in Löchern im Boden. Ein Grab wird von Totengräbern mit Spaten gemacht. Es ist nichts Unnatürliches wie ein Riss.«
    Kleider rascheln und Inés taucht aus der Dunkelheit auf. »Ich habe gerufen und gerufen«, sagt sie ärgerlich. »Hört denn nie jemand?«

Einundzwanzig
    A ls er das nächste Mal zur Wohnung kommt und anklopft, wird die Tür aufgerissen von dem Jungen, der ganz rot und aufgeregt ist. »Simón, rate mal!«, schreit er. »Wir haben Señor Daga gesehen! Er hat einen Zauberstift! Den hat er mir gezeigt!«
    Er hat die Sache mit Daga fast vergessen, dem Mann, der Álvaro und den Zahlmeister im Hafen gedemütigt hat. »Einen Zauberstift!«, sagt er. »Das klingt spannend. Darf ich reinkommen?«
    Bolívar nähert sich ihm gebieterisch und beschnüffelt seinen Schritt. Inés sitzt über ihre Näharbeit gebeugt: Er hat eine plötzliche, beunruhigende Vorstellung davon, wie sie als alte Frau sein wird. Ohne ihn zu begrüßen, spricht sie. »Wir sind in die Stadt gegangen, in die Asistencia, um die Kinderbeihilfe abzuholen, und da war dieser Mann, dieser Freund von Ihnen.«
    »Er ist nicht mein Freund. Ich habe noch nicht einmal ein Wort mit ihm gewechselt.«
    »Er hat einen Zauberstift«, sagt der Junge. »In ihm ist eine Dame, und man denkt, es ist ein Bild, ist es aber nicht, es ist eine richtige Dame, eine winzig kleine, und wenn man den Stift dreht, verliert sie ihre Kleider und ist nackt.«
    »Hm. Was hat dir Señor Daga noch gezeigt, außer der winzigen Dame?«
    »Er hat gesagt, es war nicht seine Schuld, dass Álvaro sich an der Hand verletzt hat. Er hat gesagt, Álvaro hat angefangen. Er hat gesagt, es war Álvaros Schuld.«
    »Das sagen die Leute immer. Es ist immer ein anderer, der angefangen hat. Es ist immer jemand anders schuld. Hat dir Señor Daga zufällig auch gesagt, was aus dem Fahrrad geworden ist, das er mitgenommen hat?«
    »Nein.«
    »Wenn du ihn das nächste Mal siehst, dann frage ihn danach. Frage ihn, wer schuld daran ist, dass der Zahlmeister kein Fahrrad hat und seine Runde zu Fuß machen muss.«
    Schweigen. Es überrascht ihn, dass Inés so wenig zu Männern zu sagen hat, die kleine Jungen beiseitenehmen und ihnen Stifte mit nackten Frauen darin zeigen.
    »Wessen Schuld ist es?«, fragt der Junge.
    »Was meinst du damit?«
    »Du hast gesagt, es ist immer die Schuld von jemand anders. Ist es die Schuld von Señor Daga?«
    »Dass das Fahrrad fort ist? Ja, das ist seine Schuld. Aber wenn ich sage, es ist immer jemand anders schuld, spreche ich allgemeiner. Wenn etwas schiefgeht, behaupten wir sofort, es sei nicht unsere Schuld. Diese Taktik haben wir seit Anbeginn der Welt gewählt. Es scheint in uns verankert und Teil unserer Natur zu sein. Wir sind nie bereit, unsere Schuld zuzugeben.«
    »Ist es meine Schuld?«, fragt der Junge.
    »Ist was deine Schuld? Nein, es ist nicht deine Schuld. Du bist nur ein Kind, wie kann es deine Schuld sein? Aber ich glaube wirklich, du solltest dich von Señor Daga fernhalten. Er ist kein gutes Vorbild für einen jungen Menschen.« Er spricht langsam und ernst – die Warnung ist genauso an Inés gerichtet wie an den Jungen.
    Ein paar Tage später, als er gerade aus dem Laderaum eines Schiffes im Hafen hochkommt, sieht er zu seiner Überraschung Inés selbst am Kai, vertieft in ein Gespräch mit Álvaro. Sein Herz macht einen Sprung. Sie ist noch nie vorher im Hafen gewesen – das kann nur schlechte Nachrichten bedeuten.
    Der Junge ist weg, sagt Inés, gestohlen von Señor Daga. Sie hat die Polizei gerufen, doch sie will nicht helfen. Niemand will helfen. Álvaro müsse mitkommen; er, Simón, müsse mitkommen. Sie müssen Daga ausfindig machen – das könne nicht schwer sein, er arbeite bei ihnen – und ihr das Kind zurückbringen.
    Frauen sind ein seltener Anblick im Hafen. Die Männer schauen neugierig auf die verzweifelte Frau mit ihrem wilden Haar und der städtischen Kleidung.
    Nach und nach entlocken er und Álvaro ihr die Geschichte. Die Warteschlange in der Asistencia war lang gewesen, der Junge unruhig, Señor Daga war zufällig auch dort, er bot dem Jungen ein Eis an, und als sie wieder hinsah, waren sie fort, als wären sie vom Erdboden verschwunden.
    »Aber wie konnten Sie ihn mit einem solchen Mann mitgehen lassen?«, protestiert er.
    Sie

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