Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)
gestutzt sein«, sagt er zum Jungen. »Das würde erklären, warum er nicht fliegt.«
»Nein«, sagt der Junge. »Pass auf!« Er wirft den Vogel in die Luft. Er schlägt träge mit den Flügeln, dreht ein oder zwei Runden, lässt sich dann wieder auf seiner Schulter nieder und putzt sich.
»Señor Paloma sagt, Blanco kann Botschaften befördern«, sagt der Junge. »Er sagt, wenn ich mich verirre, kann ich Blanco eine Botschaft ans Bein binden und Blanco fliegt dann heim und dann kommt Señor Paloma und findet mich.«
»Das ist sehr freundlich von Señor Paloma. Du musst daran denken, immer einen Bleistift und Papier dabei zu haben, und ein Stück Strick, damit du das Papier an Blancos Bein binden kannst. Was wirst du schreiben? Zeig mir, was du schreiben wirst, wenn du gerettet werden willst.«
Sie gehen über den leeren Spielplatz. Der Junge hockt sich in den Sandkasten, glättet die Oberfläche und fängt an, mit einem Finger zu schreiben. Er liest über seine Schulter:
O
, dann
E
, dann einen Buchstaben, den er nicht erkennen kann, dann wieder O , dann
X
und noch einmal
X
.
Der Junge steht auf. »Lies«, sagt er.
»Es fällt mir schwer. Ist es Spanisch?«
Der Junge nickt.
»Nein, ich gebe auf. Was heißt es?«
»Es heißt:
Folge Blanco, Blanco ist mein bester Freund
.«
»Soso. Fidel war einmal dein bester Freund, und davor El Rey. Was ist passiert, dass Fidel nicht mehr dein Freund ist und ein Vogel an seine Stelle getreten ist?«
»Fidel ist zu alt für mich. Fidel ist grob.«
»Ich habe nie erlebt, dass Fidel grob gewesen ist. Hat Inés dir gesagt, er sei grob?«
Der Junge nickt.
»Fidel ist ein total freundlicher Junge. Ich mag ihn, und du hast ihn auch gemocht. Ich will dir was sagen. Fidel ist verletzt, weil du nicht mehr mit ihm spielst. Meiner Meinung nach behandelst du Fidel schlecht. Eigentlich behandelst du ihn grob. Meiner Meinung nach solltest du weniger Zeit mit Señor Paloma auf dem Dach verbringen und mehr mit Fidel.«
Der Junge streichelt den Vogel auf seinem Arm. Die Rüge wird ohne Widerrede entgegengenommen. Oder vielleicht lässt er die Worte einfach über sich ergehen.
»Außerdem denke ich, du solltest Inés sagen, dass es Zeit für dich ist, in die Schule zu gehen. Du solltest darauf bestehen. Ich weiß, du bist sehr klug und hast dir selbst lesen und schreiben beigebracht, aber im wirklichen Leben musst du wie andere Leute schreiben können. Es hat keinen Zweck, wenn du Blanco mit einer am Bein festgebundenen Botschaft losschickst, wenn sie keiner lesen kann, nicht mal Señor Paloma.«
»Ich kann sie lesen.«
»Du kannst sie lesen, weil du derjenige bist, der sie geschrieben hat. Aber der ganze Sinn von Botschaften ist, dass andere Leute in der Lage sein müssen, sie zu lesen. Anderenfalls müsstest du dich an Blancos Bein binden und ihm befehlen heimzufliegen.«
Der Junge sieht ihn erstaunt an. »Aber –«, sagt er. Dann begreift er, dass es ein Scherz ist, und beide lachen und lachen.
Sie sind auf dem Spielplatz der Ostsiedlung. Er hat den Jungen auf der Schaukel abgestoßen und so hoch fliegen lassen, dass er vor Angst und Vergnügen geschrien hat. Jetzt sitzen sie nebeneinander, verschnaufen und lassen das letzte Licht des Tages auf sich wirken.
»Kann Inés aus ihrem Bauch Zwillinge bekommen?«, fragt der Junge.
»Natürlich. Das ist zwar selten, aber es ist möglich.«
»Wenn Inés Zwillinge hätte, dann könnte ich der dritte Bruder sein. Müssen Zwillinge immer zusammen sein?«
»Das müssen sie nicht, aber gewöhnlich ist ihnen das lieber. Zwillinge haben sich von Natur aus gern, wie die Zwillingssterne. Wenn es nicht so wäre, könnten sie getrennt voneinander herumwandern und sich am Himmel verirren. Aber ihre Liebe füreinander hält sie zusammen. Sie wird sie bis ans Ende der Zeit zusammenhalten.«
»Aber sie sind nicht zusammen, die Zwillingssterne, nicht richtig zusammen.«
»Nein, das stimmt, sie sind nicht ganz eng beisammen am Himmel, da ist ein winziger Raum zwischen ihnen. So ist die Natur beschaffen. Denk an Liebende. Wenn Liebende die ganze Zeit ganz eng beieinander wären, brauchten sie sich nicht mehr zu lieben. Sie wären eins. Es gäbe nichts, nach dem sie Verlangen hätten. Deshalb gibt es in der Natur Zwischenräume. Wenn alles ganz dicht zusammengepresst wäre, alles im Weltall, dann gäbe es nicht dich oder mich oder Inés. Wir beide, du und ich, würden nicht wie eben jetzt miteinander reden, es gäbe nur Stille – Einheit und
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