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Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)

Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)

Titel: Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.M. Coetzee
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Inés.
    »Nein.«
    »Hoffentlich sind Sie jetzt stolz auf sich«, sagt Inés zu ihm gewandt.
    »Es ist eine Frage der Hygiene. Der ethischen Hygiene. Wenn man Schwein isst, wird man wie ein Schwein. Teilweise. Nicht insgesamt, aber teilweise. Man hat etwas Schweinisches an sich.«
    »Sie sind verrückt«, sagt Inés. Sie spricht zum Jungen. »Hör nicht auf ihn, er ist verrückt geworden.«
    »Ich bin nicht verrückt. Es nennt sich Konsubstantiation. Warum sonst gibt es Kannibalen? Ein Kannibale ist ein Mensch, der Konsubstantiation ernst nimmt. Wenn wir einen anderen Menschen essen, nehmen wir diesen Menschen in uns auf. Das ist, was Kannibalen glauben.«
    »Was ist ein Kannibale?«, fragt der Junge.
    »Kannibalen sind Wilde«, sagt Inés. »Du brauchst dich nicht zu beunruhigen, hier gibt es keine Kannibalen. Kannibalen gehören ins Reich der Fabel.«
    »Was ist eine Fabel?«
    »Eine Geschichte aus alten Zeiten, die nicht mehr wahr ist.«
    »Erzähl mir eine Fabel. Ich möchte eine Fabel hören. Erzähl mir eine Fabel von den drei Brüdern. Oder von den Brüdern am Himmel.«
    »Ich weiß nichts von Brüdern am Himmel. Iss jetzt auf.«
    »Wenn Sie ihm nichts von Brüdern erzählen wollen, dann erzählen Sie ihm doch von Rotkäppchen«, sagt er. »Erzählen Sie ihm, wie der Wolf die Großmutter des kleinen Mädchens verschlingt und sich in eine Großmutter verwandelt, eine Wolfgroßmutter. Durch Konsubstantiation.«
    Der Junge steht auf, kratzt die Essensreste von seinem Teller in den Hundenapf und stellt den Teller in die Spüle. Der Hund verschlingt die Würste.
     
    »Ich werde Rettungsschwimmer«, verkündet der Junge. »Diego bringt es mir im Swimmingpool bei.«
    »Das ist schön«, sagt er. »Was willst du sonst noch werden, außer Rettungsschwimmer und Entfesselungskünstler und Zauberer?«
    »Nichts. Das ist alles.«
    »Leute aus Swimmingpools zu ziehen und sich aus Kisten zu befreien und Zauberkunststücke aufzuführen sind Hobbys, kein Beruf, keine Lebensarbeit. Wie willst du deinen Lebensunterhalt wirklich verdienen?«
    Der Junge blickt seine Mutter an, als suche er bei ihr Rat. Dann, kühn geworden, sagt er: »Ich muss keinen Lebensunterhalt verdienen.«
    »Wir müssen alle unseren Lebensunterhalt verdienen. Das gehört zum menschlichen Dasein.«
    »Warum?«
    »
Warum? Warum? Warum?
So können wir kein vernünftiges Gespräch führen. Wie willst du essen, wenn du deine ganze Zeit damit zubringst, Leute zu retten und dich aus Ketten zu befreien, und nicht arbeiten willst? Wo willst du die Nahrung hernehmen, die dich stark machen soll?«
    »Aus dem Laden.«
    »Du gehst also in den Laden und sie geben dir Lebensmittel. Für umsonst.«
    »Ja.«
    »Und was passiert, wenn die Leute im Laden alle ihre Lebensmittel für umsonst weggegeben haben? Was passiert, wenn der Laden leer ist?«
    Ruhig, mit einem seltsamen kleinen Lächeln auf den Lippen, antwortet das Kind: »Warum?«
    »Warum was?«
    »Warum ist der Laden leer?«
    »Weil du, wenn du X Brote hast und sie alle für umsonst weggibst, dann keine Brote mehr hast und kein Geld, um neue Brote zu kaufen. Weil x minus x gleich null ist. Gleich nichts ist. Gleich Leere ist. Gleich ein leerer Magen ist.«
    »Was ist X ?«
    » X ist jede Zahl, zehn oder hundert oder tausend. Wenn du etwas hast und es weggibst, dann hast du es nicht mehr.«
    Der Junge kneift die Augen zu und zieht eine Grimasse. Dann fängt er an zu kichern. Er packt den Rock seiner Mutter und presst das Gesicht an ihren Schenkel und kichert und kichert, bis er rot im Gesicht ist.
    »Was ist los, Schatz?«, fragt Inés. Aber der Junge hört nicht auf zu lachen.
    »Sie gehen jetzt lieber«, sagt Inés. »Sie regen ihn auf.«
    »Ich bilde ihn. Wenn Sie ihn in die Schule schicken würden, dann wäre dieser Hausunterricht nicht nötig.«
     
    Der Junge hat sich mit einem alten Mann im Block E angefreundet, der einen Taubenschlag auf dem Dach hat. Nach dem Briefkasten im Hausflur ist sein Name Palamaki, aber der Junge nennt ihn Señor Paloma, Herr Taube. Señor Paloma lässt den Jungen die Vögel von Hand füttern. Er hat ihm sogar eine eigene Taube geschenkt, einen reinweißen Vogel, den der Junge Blanco nennt.
    Blanco ist ein ruhiger, ja sogar träger Vogel, der es sich gefallen lässt, auf dem Handgelenk des ausgestreckten Jungenarms oder manchmal auf der Schulter spazieren getragen zu werden. Er zeigt keine Neigung wegzufliegen oder überhaupt zu fliegen.
    »Ich glaube, Blancos Flügel könnten

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