Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)
schiebt die Frage mit einer herrischen Kopfbewegung beiseite. »Ein heranwachsender Junge braucht einen Mann in seinem Leben. Er kann nicht die ganze Zeit mit seiner Mutter zusammen sein. Und ich habe gedacht, er sei ein netter Mann. Ich habe gedacht, er sei ehrlich. Sein Ohrring beeindruckt David. Er möchte auch einen Ohrring.«
»Haben Sie ihm einen versprochen?«
»Ich habe ihm gesagt, er könne einen Ohrring tragen, wenn er älter ist, aber jetzt noch nicht.«
»Ich überlasse euch eurem Gespräch«, sagt Álvaro. »Ruft mich, wenn ihr mich braucht.«
»Was ist Ihre eigene Rolle dabei?«, fragt er, als sie allein sind. »Wie konnten Sie Ihr Kind diesem Mann anvertrauen? Gibt es etwas, was Sie mir nicht erzählt haben? Ist es möglich, dass er auch Sie beeindruckt, mit seinen goldenen Ohrringen und seinen Stiften samt nackter Damen?«
Sie tut so, als habe sie nicht gehört. »Ich habe gewartet und gewartet«, sagt sie. »Dann habe ich den Bus genommen, weil ich gedacht habe, sie könnten vielleicht nach Hause gegangen sein. Als sie nicht da waren, habe ich meinen Bruder angerufen, und er hat gesagt, er würde die Polizei anrufen, doch dann hat er zurückgerufen und gesagt, die Polizei wolle nicht helfen, weil ich nicht … weil ich nicht die korrekten Papiere für David habe.«
Sie macht eine Pause und starrt gebannt in die Ferne. »Er hat mir gesagt …«, meint sie, »er hat mir gesagt, er würde mir ein Kind geben. Er hat mir nicht gesagt … er hat nicht gesagt, dass er mein Kind wegnehmen würde.« Plötzlich schluchzt sie hilflos. »Das hat er nicht gesagt … das hat er nicht gesagt …«
Sein Zorn verraucht nicht, aber er fühlt dennoch mit der Frau. Ohne die zuschauenden Schauerleute zu beachten, nimmt er sie in den Arm. Sie schluchzt an seiner Schulter. »Das hat er nicht gesagt …«
Er hat gesagt, er würde mir ein Kind geben
. Ihm schwirrt der Kopf. »Komm weg hier«, sagt er. »Lass uns hingehen, wo wir nicht beobachtet werden.« Er führt sie hinter den Schuppen. »Hör mir zu, Inés. David ist sicher, davon bin ich überzeugt. Daga würde es nicht wagen, ihm etwas anzutun. Geh wieder heim und warte dort. Ich werde herausfinden, wo er wohnt und ihn aufsuchen.« Er macht eine Pause. »Was hat er denn damit gemeint, dass er dir ein Kind geben will?«
Sie entzieht sich ihm. Die Schluchzer verebben. »Was meinst du wohl?«, sagt sie und in ihrer Stimme ist ein scharfer Ton.
Eine halbe Stunde später ist er im Umsiedlungszentrum. »Ich benötige dringend eine Information«, sagt er zu Ana. »Kennen Sie einen Mann, der Daga heißt? Er ist in den Dreißigern, schlank, trägt einen Ohrring. Hat kurzzeitig im Hafen gearbeitet.«
»Warum fragen Sie?«
»Weil ich ihn sprechen muss. Er hat David seiner Mutter weggenommen und ist verschwunden. Wenn Sie nicht helfen wollen, muss ich zur Polizei gehen.«
»Er heißt Emilio Daga. Jeder kennt ihn. Er wohnt in der Stadtsiedlung. Wenigstens ist er dort gemeldet.«
»Wo genau in der Stadtsiedlung?«
Sie zieht sich zu den Karteikartenkästen zurück und kommt mit der Adresse auf einem Zettel zurück. »Wenn Sie das nächste Mal hier sind«, sagt sie, »dann erzählen Sie mir doch, wie Sie seine Mutter ausfindig gemacht haben. Das würde ich gern erfahren, wenn Sie die Zeit dafür haben.«
Die Stadtsiedlung ist der begehrteste der vom Zentrum verwalteten Wohnkomplexe. Die Adresse, die ihm Ana gegeben hat, führt ihn zu einer Wohnung im obersten Stock des Hauptgebäudes. Er klopft. Die Tür wird von einer attraktiven jungen Frau geöffnet, die etwas zu aufdringlich geschminkt ist und unsicher auf Stöckelschuhen schwankt. Eigentlich gar keine Frau – er bezweifelt, dass sie älter als sechzehn ist.
»Ich suche einen gewissen Emilio Daga«, sagt er. »Wohnt er hier?«
»Klar«, sagt das Mädchen. »Kommen Sie rein. Wollen Sie David abholen?«
In der Wohnung riecht es nach abgestandenem Zigarettenrauch. Daga, in einem Baumwoll- T -Shirt und Jeans, barfuß, sitzt vor einem großen Fenster mit Blick auf die Stadt und die untergehende Sonne. Er dreht sich mit dem Stuhl um, hebt grüßend eine Hand.
»Ich komme David abholen«, sagt er.
»Er ist im Schlafzimmer und sieht fern«, sagt Daga. »Sind Sie der Onkel? David! Dein Onkel ist hier!«
Der Junge kommt aufgeregt aus dem Nachbarzimmer gestürzt. »Simón, komm und sieh dir das an! Es ist Mickey Mouse! Er hat einen Hund, der Plato heißt, und er fährt einen Zug und die Indianer schießen mit
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