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Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)

Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)

Titel: Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.M. Coetzee
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Stille. Daher ist es im Ganzen betrachtet gut, dass es Zwischenräume zwischen den Dingen gibt, dass du und ich zwei statt einer sind.«
    »Aber wir können fallen. Wir können durch den Zwischenraum fallen. Durch den Riss.«
    »Ein Zwischenraum ist nicht das Gleiche wie ein Riss, mein Junge. Zwischenräume gehören zur Natur, so ist die Welt beschaffen. Du kannst nicht in einen Zwischenraum fallen und verschwinden. Das geschieht einfach nicht. Ein Riss ist etwas ganz anderes. Ein Riss ist ein Bruch in der Ordnung der Natur. Es ist so, als würdest du dich mit einem Messer schneiden oder als würdest du eine Seite zerreißen. Du sagst immerfort, wir müssten auf Risse achten, aber wo sind denn diese Risse? Wo siehst du einen Riss zwischen dir und mir? Zeig ihn mir.«
    Der Junge schweigt.
    »Die Zwillinge am Himmel sind wie Zwillinge auf der Erde. Sie sind auch wie Zahlen.« Ist das alles zu schwer für ein Kind? Vielleicht. Aber der Junge wird seine Worte aufnehmen, das muss er hoffen – sie aufnehmen und darüber nachdenken und vielleicht allmählich ihren Sinn begreifen. »Wie eins und zwei. Eins und zwei sind nicht dasselbe, es gibt einen Unterschied zwischen ihnen, der ein Zwischenraum, aber kein Riss ist. Das macht es für uns möglich zu zählen, von eins zu zwei zu kommen, ohne dass wir befürchten müssen zu fallen.«
    »Können wir sie irgendwann besuchen, die Zwillinge am Himmel? Können wir in einem Schiff hinfahren?«
    »Wahrscheinlich, wenn wir die richtige Art Schiff finden können. Aber die Fahrt dorthin würde sehr lange dauern. Die Zwillinge sind sehr weit weg. Noch ist niemand zu Besuch bei ihnen gewesen, soviel ich weiß. Das hier« – er stampft mit dem Fuß auf den Boden – »ist der einzige Stern, den wir Menschen jemals besucht haben.«
    Der Junge starrt ihn verblüfft an. »Das ist kein Stern«, sagt er.
    »Doch. Er sieht nur von nahem nicht wie ein Stern aus.«
    »Er leuchtet nicht.«
    »Von nahem leuchtet nichts. Aus der Entfernung leuchtet jedoch alles. Du leuchtest. Ich leuchte. Die Sterne leuchten ganz bestimmt.«
    Der Junge scheint erfreut. »Sind alle Sterne Zahlen?«, fragt er.
    »Nein. Ich habe gesagt, Zwillinge sind
wie
Zahlen, aber das war nur so eine Redensart. Nein, die Sterne sind keine Zahlen. Sterne und Zahlen sind ganz verschiedene Dinge.«
    »Ich glaube, die Sterne sind Zahlen. Ich glaube, das ist Nummer 11 « – er zeigt mit dem Finger in den Himmel hoch – »und das ist Nummer 50 und das ist Nummer 33333 .«
    »Ah, meinst du, wir können jedem Stern eine Nummer geben? Das wäre gewiss eine Art, sie zu bestimmen, aber eine sehr langweilige Art, sehr einfallslos. Ich denke, es ist besser, dass sie richtige Namen haben, wie Bär und Abendstern und Zwillinge.«
    »Nein, du Dussel, ich habe gesagt, jeder Stern
ist
eine Zahl.«
    Er schüttelt den Kopf. »Es ist
nicht
jeder Stern eine Zahl. Sterne sind in einigen Beziehungen wie Zahlen, aber in den meisten Beziehungen sind sie ganz anders. Zum Beispiel sind die Sterne chaotisch über den ganzen Himmel verstreut, während die Zahlen wie eine Flotte Schiffe sind, die in einer Ordnung fahren, von denen jedes seinen Platz hat.«
    »Sie können sterben. Zahlen können sterben. Was passiert mit ihnen, wenn sie sterben?«
    »Zahlen können nicht sterben. Sterne können nicht sterben. Sterne sind unsterblich.«
    »Zahlen
können
sterben. Sie können vom Himmel fallen.«
    »Das ist nicht wahr. Sterne können nicht vom Himmel fallen. Diejenigen, die zu fallen scheinen, die Sternschnuppen, sind keine richtigen Sterne. Und was die Zahlen angeht, wenn eine Zahl aus der Reihe fallen würde, dann wäre da ein Riss, ein Bruch, und so funktionieren Zahlen nicht. Es gibt nie einen Riss zwischen den Zahlen. Keine Zahl fehlt jemals.«
    »Doch! Du hast keine Ahnung! Du vergisst alles! Eine Zahl kann vom Himmel fallen, wie Don Quijote in den Riss hinuntergefallen ist.«
    »Don Quijote ist nicht in einen Riss gefallen. Er ist in eine Höhle hinabgestiegen, indem er eine aus Seilen gefertigte Leiter benutzte. Don Quijote ist sowieso nicht wichtig. Er existiert nicht wirklich.«
    »Doch! Er ist ein Held!«
    »Tut mir leid. Ich habe das nicht so gemeint. Natürlich ist Don Quijote ein Held und natürlich existiert er wirklich. Ich wollte eigentlich sagen, was mit ihm geschehen ist, geschieht den Menschen nicht mehr. Die Menschen leben ihr Leben von Anfang bis Ende, ohne in Risse zu fallen.«
    »Sie fallen doch! Sie fallen in Risse und man kann sie

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