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Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)

Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)

Titel: Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.M. Coetzee
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verstanden. Oder vielmehr, er hat vorgetäuscht, nichts zu verstehen. Ich sage
vorgetäuscht
, weil er in Wirklichkeit schon lesen und schreiben konnte, als er in die Schule kam.«
    »Ist das wahr?«, fragt der vorsitzende Richter.
    »Lesen und schreiben, ja, zeitweise«, antwortet er, Simón. »Er hat gute Tage und schlechte Tage. Was das Rechnen betrifft, so hat er gewisse Schwierigkeiten, philosophische Schwierigkeiten, nenne ich sie gern, die sein Fortschreiten behindern. Er ist ein außergewöhnliches Kind. Außergewöhnlich intelligent, und auch außergewöhnlich in anderer Beziehung. Er hat sich selbst das Lesen anhand des Buches
Don Quijote
beigebracht, einer Ausgabe für Kinder. Ich habe das erst vor ganz kurzem mitbekommen.«
    »Der strittige Punkt ist nicht, ob der Junge lesen und schreiben kann, oder wer ihm das beigebracht hat«, sagt Señor León, »er ist, ob er in einer normalen Schule untergebracht werden kann. Ich habe nicht die Zeit, mich mit einem Kind zu beschäftigen, das sich weigert zu lernen und das durch sein Verhalten die normalen Aktivitäten der Klasse stört.«
    »Er ist kaum sechs Jahre alt!«, platzt Inés heraus. »Was für ein Lehrer sind Sie, dass Sie nicht mit einem sechsjährigen Kind fertig werden?«
    Señor León versteift sich. »Ich habe nicht gesagt, dass ich nicht mit Ihrem Sohn fertig werden kann. Was ich nicht tun kann, ist, meine Pflichten den anderen Kindern gegenüber zu erfüllen, während er im Klassenzimmer ist. Ihr Sohn braucht besondere Aufmerksamkeit von einer Art, die wir in einer normalen Schule nicht bieten können. Deshalb habe ich Punta Arenas empfohlen.«
    Schweigen tritt ein.
    »Haben Sie noch etwas zu sagen, Señora?«, fragt der vorsitzende Richter.
    Inés wirft ärgerlich den Kopf zurück.
    »Señor?«
    »Nein.«
    »Dann bitte ich Sie, sich zurückzuziehen – auch Sie, Señor León – und auf unsere Entscheidung zu warten.«
    Sie ziehen sich in den Warteraum zurück, sie drei gemeinsam. Inés bringt es nicht über sich, Señor León anzusehen. Nach ein paar Minuten werden sie wieder hereingerufen. »Die Entscheidung dieses Untersuchungsausschusses lautet«, sagt der vorsitzende Richter, »dass die Empfehlung von Señor León, befürwortet und unterstützt von der Schulpsychologin und vom Schulleiter, aufrechterhalten wird. Der Junge David wird in die Schule von Punta Arenas versetzt, die Versetzung soll so bald wie möglich erfolgen. Das ist alles. Ich bedanke mich für die Teilnahme.«
    »Euer Ehren«, sagt er, »darf ich fragen, ob wir das Recht haben, Einspruch einzulegen?«
    »Sie können die Angelegenheit vor das Zivilgericht bringen, natürlich, das ist Ihr Recht. Aber ein Einspruchsverfahren kann nicht benutzt werden, um die Entscheidung des Ausschusses außer Kraft zu setzen. Das heißt, die Versetzung nach Punta Arenas tritt in Kraft, ob Sie vor Gericht gehen oder nicht.«
     
    »Diego wird uns morgen Abend abholen«, sagt Inés. »Es ist alles geregelt. Er muss nur irgendein Geschäft zu Ende bringen.«
    »Und wo willst du denn hin?«
    »Wie soll ich das wissen? Irgendwohin, wo wir außer Reichweite dieser Leute und sicher vor Verfolgung sind.«
    »Lässt du dich wirklich von einer Meute Schulbeamter aus der Stadt jagen, Inés? Wie wollt ihr leben, du und Diego und das Kind?«
    »Ich weiß es nicht. Wie die Zigeuner, vermute ich. Warum hilfst du nicht, statt Einwände vorzubringen?«
    »Was sind Zigeuner?«, schaltet sich der Junge ein.
    »Wie die Zigeuner leben ist nur so eine Redensart«, sagt er. »Du und ich, wir waren so etwas wie Zigeuner, als wir im Lager in Belstar lebten. Ein Zigeuner zu sein bedeutet, dass man kein richtiges Zuhause hat, keinen Ort, wo man sein Haupt niederlegen kann. Es ist nicht besonders lustig, Zigeuner zu sein.«
    »Werde ich zur Schule gehen müssen?«
    »Nein. Zigeunerkinder gehen nicht zur Schule.«
    »Dann will ich mit Inés und Diego ein Zigeuner sein.«
    Er wendet sich an Inés. »Ich wünschte, du hättest das mit mir besprochen. Hast du wirklich vor, unter Hecken zu schlafen und Beeren zu essen, während du dich vor dem Gesetz versteckst?«
    »Das hat mit dir nichts zu tun«, erwidert Inés eisig. »Dir ist es egal, wenn David in eine Besserungsanstalt kommt. Mir nicht.«
    »Punta Arenas ist keine Besserungsanstalt.«
    »Es ist ein Abladeplatz für Straffällige – Straffällige und Waisen. Mein Kind geht nicht an diesen Ort, nie, nie, nie.«
    »Ich stimme dir zu. David verdient es nicht, nach Punta

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