Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)

Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)

Titel: Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.M. Coetzee
Vom Netzwerk:
beschreiben.«
    »Ist es so, wie wenn Zahlen sich auftun und man fällt?«
    »Nein, ganz und gar nicht. Die Zahlen tun sich nie auf. Wir können bei den Zahlen sicher sein. Die Zahlen sind es, die das Universum zusammenhalten. Du solltest dich mit den Zahlen anfreunden. Wenn du sie freundlicher behandeln würdest, wären sie auch freundlicher zu dir. Dann müsstest du nicht befürchten, dass sie unter deinen Füßen nachgeben.«
    Er spricht so ernsthaft wie er kann, und es scheint, als höre der Junge das. »Warum hat Inés mit Señor León gekämpft?«, fragt er.
    »Sie haben nicht gekämpft. Es hat einen hitzigen Wortwechsel zwischen ihnen gegeben, den sie beide wahrscheinlich bedauern, da sie nun Zeit zum Nachdenken hatten. Aber das ist nicht dasselbe wie Kämpfen. Starke Worte sind kein Kampf. Es gibt Zeiten, in denen wir uns einsetzen müssen für die, die wir lieben. Deine Mutter hat sich für dich eingesetzt. Das tut eine gute Mutter, eine tapfere Mutter für ihre Kinder: für sie einstehen, sie beschützen, so lange sie noch Atem hat. Du solltest stolz darauf sein, eine solche Mutter zu haben.«
    »Inés ist nicht meine Mutter.«
    »Inés ist deine Mutter. Sie ist dir eine wahre Mutter. Sie ist deine wahre Mutter.«
    »Werden sie mich wegholen?«
    »Wird wer dich wegholen?«
    »Die Leute von Punta Arenas.«
    »Punta Arenas ist eine Schule. Die Lehrer in Punta Arenas entführen keine Kinder. So funktioniert das Bildungswesen nicht.«
    »Ich will nicht nach Punta Arenas. Versprich mir, dass du ihnen nicht erlaubst, mich mitzunehmen.«
    »Ich verspreche es. Deine Mutter und ich erlauben niemandem, dich nach Punta Arenas zu schicken. Du hast gesehen, was für eine Tigerin deine Mutter ist, wenn es gilt, dich zu verteidigen. Keiner kommt an ihr vorbei.«
     
    Die Anhörung findet in der Zentrale der Bildungsbehörde in Novilla statt. Er und Inés sind zur angegebenen Zeit dort. Nach einer kurzen Wartezeit werden sie in einen riesigen, hallenden Saal geführt, mit Reihe um Reihe leerer Stühle. Im Präsidium, auf einer erhöhten Bank, sitzen zwei Männer und eine Frau, Richter oder Prüfer. Señor León ist schon anwesend. Es wird kein Gruß ausgetauscht.
    »Sie sind die Eltern des Jungen David?«, fragt der Richter in der Mitte.
    »Ich bin seine Mutter«, sagt Inés.
    »Und ich bin sein Pate«, sagt er. »Er hat keinen Vater.«
    »Sein Vater ist verstorben?«
    »Sein Vater ist unbekannt.«
    »Bei wem von Ihnen lebt der Junge?«
    »Der Junge lebt bei seiner Mutter. Seine Mutter und ich, wir leben nicht zusammen. Wir haben keine eheliche Gemeinschaft. Trotzdem sind wir drei eine Familie. Eine Art von Familie. Wir kümmern uns beide zuverlässig um David. Ich sehe ihn fast jeden Tag.«
    »Wir haben gehört, dass David im Januar zum ersten Mal in die Schule gegangen ist und Señor Leóns Klasse zugeteilt wurde. Nach einigen Wochen wurden sie zusammen zu einer Konsultation einbestellt. Ist das richtig?«
    »Ja.«
    »Und was hat Ihnen Señor León berichtet?«
    »Er hat gesagt, dass David kaum Lernfortschritte mache, auch, dass er ungehorsam sei. Er hat empfohlen, dass er aus der Klasse genommen wird.«
    »Señor León, ist das richtig?«
    Señor León nickt. »Ich habe den Fall mit Señora Otxoa, der Schulpsychologin, besprochen. Wir stimmten überein, dass David davon profitieren würde, wenn er in die Schule von Punta Arenas überwiesen würde.«
    Der Richter sieht sich um. »Ist Señora Otxoa anwesend?«
    Ein Gerichtsbeamter flüstert ihm ins Ohr. Der Richter spricht: »Señora Otxoa kann nicht teilnehmen, hat aber einen Bericht vorgelegt, in dem …« – er sucht in seinen Papieren – »in dem sie, wie Sie sagen, Señor León, eine Überweisung nach Punta Arenas empfiehlt.«
    Die Richterin zur Linken spricht. »Señor León, können Sie erklären, warum Sie einen solchen Schritt für notwendig erachten? Es scheint eine sehr strenge Maßnahme, einen Sechsjährigen nach Punta Arenas zu schicken.«
    »Señora, ich habe zwölf Jahre Berufserfahrung als Lehrer. In dieser ganzen Zeit habe ich keinen ähnlichen Fall erlebt. Der Junge David ist nicht dumm. Er ist nicht behindert. Im Gegenteil, er ist begabt und intelligent. Aber er weigert sich, Führung zu akzeptieren, und er will nicht lernen. Ich habe ihm viele Stunden gewidmet, auf Kosten der anderen Kinder in der Klasse, und habe versucht, ihm die Grundlagen des Lesens, Schreibens und Rechnens beizubringen. Er hat keine Fortschritte gemacht. Er hat nichts

Weitere Kostenlose Bücher