Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)
als lausche er darauf, dass weit weg ein Wort gesprochen wird. Die Kreide bewegt sich nicht.
»Zähle. Zähle eins-zwei-drei-vier-fünf. Jetzt zähle noch drei mehr. Wieviele sind das dann?«
Der Junge schüttelt den Kopf. »Ich kann sie nicht sehen«, sagt er mit leisem Stimmchen.
»Was kannst du nicht sehen? Du brauchst keine Fische zu sehen, du brauchst nur die Zahlen zu sehen. Schau auf die Zahlen. Fünf und dann noch drei. Wieviel ist das?«
»Diesmal … diesmal …«, sagt der Junge mit dem gleichen leisen Stimmchen, »ist es … acht.«
»Gut. Zieh eine Linie unter die drei und schreibe acht. Du hast also die ganze Zeit getäuscht, als du gesagt hast, du könntest nicht zählen. Jetzt zeig uns, wie du schreiben kannst. Schreib:
Conviene que yo diga la verdad
, ich muss die Wahrheit sagen. Schreib.
Conviene
.«
Der Junge schreibt, von links nach rechts, die Buchstaben deutlich, wenn auch langsam malend:
Yo soy la verdad,
ich bin die Wahrheit.
»Da sehen Sie es«, sagt Señor León, an Inés gewandt. »Damit musste ich mich Tag für Tag herumschlagen, während Ihr Sohn in meiner Klasse war. Wirklich, es kann nur eine Autorität im Klassenzimmer geben, es kann nicht zwei geben. Sehen Sie das anders?«
»Er ist ein außergewöhnliches Kind«, sagt Inés. »Was für eine Schule führen Sie denn, wenn Sie nicht mit einem einzigen außergewöhnlichen Kind zurechtkommen?«
»Wenn es sich weigert, auf seinen Lehrer zu hören, bedeutet das nicht, dass ein Kind außergewöhnlich ist, es bedeutet einfach, dass es ungehorsam ist. Wenn Sie darauf bestehen, dass der Junge eine Sonderbehandlung bekommen muss, lassen sie ihn nach Punta Arenas gehen. Dort wissen sie mit außergewöhnlichen Kindern umzugehen.«
Inés richtet sich kerzengerade auf, ihre Augen glühen. »Nur über meine Leiche geht er nach Punta Arenas!«, sagt sie. »Komm, mein Schatz!«
Sorgfältig legt der Junge die Kreide in ihre Schachtel zurück. Weder nach rechts noch nach links blickend folgt er seiner Mutter aus dem Zimmer.
An der Tür dreht sich Inés um und schießt einen letzten Pfeil auf Señor León ab: »Sie sind ungeeignet, Kinder zu unterrichten!«
Señor León zuckt gleichgültig mit den Schultern.
Während die Tage vergehen, wächst Inés’ Empörung noch. Sie verbringt Stunden am Telefon im Gespräch mit ihren Brüdern, schmiedet Plan auf Plan, Novilla zu verlassen und irgendwo anders ein neues Leben anzufangen, außer Reichweite der Bildungsbehörde.
Er denkt über die Episode im Klassenzimmer nach und es fällt ihm schwerer, sich unfair behandelt zu fühlen. Er mag den autokratischen Señor León nicht; er teilt Inés’ Meinung, dass er nicht für kleine Kinder zuständig sein sollte. Aber warum sträubt sich der Junge gegen Unterweisung? Ist es nur ein angeborener rebellischer Geist, der, geschürt von seiner Mutter, in ihm aufflammt; oder hat die Missstimmung zwischen Schüler und Lehrer eine spezifischere Ursache?
Er nimmt den Jungen beiseite. »Ich weiß, Señor León kann manchmal sehr streng sein«, sagt er, »und ihr seid nicht immer gut miteinander ausgekommen. Ich versuche zu verstehen, warum das so ist. Hat Señor León jemals etwas Hässliches zu dir gesagt, wovon du uns nichts erzählt hast?«
Der Junge sieht ihn verwundert an. »Nein.«
»Wie gesagt beschuldige ich niemanden, ich versuche nur zu verstehen. Gibt es einen Grund, warum du Señor León nicht leiden kannst, abgesehen davon, dass er streng ist?«
»Er hat ein Glasauge.«
»Das ist mir bekannt. Er hat es vielleicht bei einem Unfall verloren. Er ist deswegen vielleicht empfindlich. Aber wir machen aus Menschen keine Feinde, nur weil sie Glasaugen haben.«
»Warum sagt er, es gibt keinen Don Quijote? Es gibt einen Don Quijote. Er ist in dem Buch. Er rettet Menschen.«
»Es stimmt, in dem Buch ist ein Mann, der sich Don Quijote nennt und Menschen rettet. Aber einige der Menschen, die er rettet, wollen gar nicht gerettet werden. Sie sind glücklich so, wie sie sind. Sie sind böse auf Don Quijote und schreien ihn an. Sie sagen, er wisse nicht, was er tue, er störe die soziale Ordnung. Señor León liebt Ordnung, David. Er liebt Ruhe und Ordnung im Klassenzimmer. Daran ist nichts Verkehrtes. Chaos kann sehr beunruhigend sein.«
»Was ist Chaos?«
»Das habe ich dir gestern erklärt. Chaos herrscht, wenn es keine Ordnung gibt, keine Gesetze, an die man sich hält. Chaos ist, wenn Sachen einfach herumwirbeln. Ich kann es nicht besser
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