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Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)

Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)

Titel: Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.M. Coetzee
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Schnitte und blaue Flecke zu sehen, und er hat Hautabschürfungen, aber es gibt keinen Hinweis auf eine Verletzung des Gehirns. Ein paar Tage unter Beobachtung, noch ein paar Wochen Ruhe, und er sollte wieder der Alte sein. Inzwischen wird die Schmerzbekämpfung oberste Priorität haben.
    Sein treuster Besucher ist Eugenio, der voller Schuldgefühle ist wegen seiner Ungeschicklichkeit im Umgang mit dem Kran. Er versucht sein Bestes, um den Jüngeren zu trösten – »Wie konnte man erwarten, dass du eine neue Maschine in so kurzer Zeit beherrschst?« –, doch Eugenio will sich nicht trösten lassen. Wenn er aus seinem Schlummer auftaucht, dann ist es nur allzu oft Eugenio, der in sein Blickfeld schwimmt, wie er über ihn wacht.
    Álvaro kommt ihn auch besuchen, ebenso andere Kameraden vom Hafen. Álvaro hat mit den Ärzten gesprochen und kommt mit der Neuigkeit an, dass es, obwohl er eine völlige Wiederherstellung erwarten darf, für ihn in seinem Alter nicht klug wäre, sein Leben als Schauermann wiederaufzunehmen.
    »Vielleicht kann ich Kranführer werden«, schlägt er vor. »Schlechter als Eugenio würde ich es bestimmt nicht machen.«
    »Wenn du als Kranführer arbeiten willst, musst du zum Straßenbau wechseln«, antwortet Álvaro. »Kräne sind zu gefährlich. Im Hafen haben sie keine Zukunft. Kräne sind immer schon eine schlechte Idee gewesen.«
    Er hofft, dass Inés ihn besuchen kommt, doch sie kommt nicht. Er befürchtet das Schlimmste: dass sie ihren Plan, mit dem Jungen zu fliehen, ausgeführt hat.
    Er erzählt Clara von seiner Befürchtung. »Ich habe eine Freundin«, sagt er, »deren jungem Sohn ich sehr zugetan bin. Die Bildungsbehörde hat aus Gründen, die ich nicht näher erläutern will, gedroht, ihn ihr wegzunehmen und ihn in eine Sonderschule zu schicken. Kann ich dich um einen Gefallen bitten? Könntest du sie anrufen und herausfinden, ob sich etwas Neues ergeben hat?«
    »Natürlich«, sagt Clara. »Aber würdest du nicht gern selbst mit ihr sprechen? Ich kann dir ein Telefon ans Bett bringen.«
    Er ruft in der Siedlung an. Ein Nachbar meldet sich am Telefon, er geht weg, kommt zurück und berichtet, dass Inés nicht zu Hause ist. Er ruft später am Tag an, wieder ohne Erfolg.
    Früh am nächsten Morgen, in dem namenlosen Raum zwischen Schlafen und Wachen, hat er einen Traum oder eine Vision. Mit ungewöhnlicher Klarheit sieht er einen zweirädrigen Streitwagen am Fuße seines Bettes in der Luft schweben. Der Wagen ist aus Elfenbein oder einem mit Elfenbein eingelegten Metall, und er wird von zwei Schimmeln gezogen, von denen keiner El Rey ist. Die Zügel in einer Hand haltend, die andere zu einer königlichen Geste in die Luft hebend, steht dort der Junge, nackt bis auf einen baumwollenen Lendenschurz.
    Wie der Wagen und die beiden Pferde in das kleine Krankenzimmer passen, ist ihm ein Rätsel. Der Wagen scheint in der Luft zu hängen, ohne Anstrengung vonseiten der Pferde oder des Wagenlenkers. Weit entfernt davon, erstarrt zu sein, scharren die Pferde ab und zu mit den Hufen in der Luft oder werfen die Köpfe hoch und schnauben. Und der Junge scheint nicht müde zu werden, den Arm hochzuhalten. Sein Gesichtsausdruck ist ein vertrauter: Selbstzufriedenheit, vielleicht sogar Triumph.
    An einer Stelle schaut der Junge ihn direkt an.
Lies meine Augen
, scheint er zu sagen.
    Der Traum, oder die Vision, dauert zwei oder drei Minuten. Dann verschwindet er, und das Zimmer ist wieder wie zuvor.
    Er erzählt Clara davon. »Glaubst du an Telepathie?«, fragt er. »Ich hatte das Gefühl, dass David mir etwas mitzuteilen versucht hat.«
    »Und was war das?«
    »Ich bin nicht sicher. Vielleicht dass er und seine Mutter Hilfe brauchen. Oder vielleicht nicht. Die Botschaft war – wie soll ich es sagen? – dunkel.«
    »Nun, denke daran, dass das Schmerzmittel, das du nimmst, ein Opiat ist. Opiate geben uns Träume, Opiumträume.«
    »Das war kein Opiumtraum. Es war echt.«
    Von da an lehnt er die Schmerzmittel ab und leidet entsprechend. Am schlimmsten sind die Nächte: selbst die kleinste Bewegung versetzt ihm einen elektrisch schmerzhaften Stich in die Brust.
    Er hat nichts, was ihn ablenken könnte, nichts zu lesen. Das Krankenhaus hat keine Bücherei, bietet nur alte Nummern populärer Zeitschriften (Rezepte, Hobbys, Frauenmode). Er beklagt sich bei Eugenio, der ihm daraufhin das Lehrbuch seines Philosophiekurses mitbringt (»Ich weiß, dass du ein ernsthafter Mensch bist«). Das Buch handelt, wie

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