Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)
Schwierigkeiten in der Schule, weil du keinen normalen Vater hast, wie andere Kinder, weil du nur mich hast?«
»Nein.«
»Bist du sicher? Weil Señora Otxoa, die Dame in der Schule, uns gesagt hat, du könntest dir Sorgen machen, weil du keinen richtigen Vater hast.«
»Ich mache mir keine Sorgen. Ich mache mir um gar nichts Sorgen.«
»Das freut mich. Denn du musst wissen, Väter sind nicht besonders wichtig, verglichen mit Müttern. Eine Mutter bringt dich aus ihrem Körper heraus auf die Welt. Sie gibt dir Milch, wie ich schon gesagt habe. Sie hält dich im Arm und beschützt dich. Während Väter manchmal etwas von einem Herumtreiber haben, wie Don Quijote, und nicht immer da sind, wenn man sie braucht. Er hilft bei deiner Entstehung, ganz am Anfang, aber dann zieht er weiter. Wenn du dann auf die Welt kommst, ist er vielleicht über alle Berge und auf der Suche nach neuen Abenteuern. Deshalb haben wir Paten, verlässliche, biedere Paten, und Onkel. Damit es in der Abwesenheit des Vaters einen gibt, der seine Stelle einnimmt, einen, an den man sich wenden kann.«
»Bist du mein Pate oder mein Onkel?«
»Beides. Du kannst mich sehen, wie du willst.«
»Wer ist mein wirklicher Vater? Wie heißt er?«
»Das weiß ich nicht.
Dios sabe
. Das hat vermutlich in dem Brief gestanden, den du bei dir hattest, aber der Brief ging verloren, wurde von den Fischen gefressen, und Tränen darüber zu vergießen, bringt ihn nicht zurück. Wie schon gesagt, geschieht es oft, dass wir nicht wissen, wer der Vater ist. Selbst die Mutter weiß es nicht immer ganz sicher. Also: bist du nun bereit, Señor León zu besuchen? Bereit, ihm zu zeigen, wie klug du bist?«
Sechsundzwanzig
E ine Stunde lang warten sie geduldig vor dem Sekretariat der Schule, bis die letzte Glocke ertönt ist und das letzte Klassenzimmer sich geleert hat. Dann kommt Señor León mit der Tasche in der Hand an ihnen vorbei, auf dem Weg nach Hause. Es ist deutlich zu erkennen, dass er nicht erfreut ist, sie zu sehen.
»Nur fünf Minuten von Ihrer Zeit, Señor León«, bittet er. »Wir möchten Ihnen zeigen, wieviel Fortschritte David beim Lesen gemacht hat. Bitte. David, zeige Señor León, wie du liest.«
Señor León weist sie in sein Klassenzimmer. David schlägt
Don Quijote
auf. »An einem Orte der Mancha, an dessen Namen ich mich nicht erinnern will, lebte vor nicht langer Zeit ein Junker mit einem hageren Gaul –«
Señor León unterbricht ihn gebieterisch. »Ich bin nicht bereit, etwas auswendig Gelerntes anzuhören.« Er geht mit großen Schritten quer durchs Zimmer, reißt einen Schrank auf und kommt mit einem Buch zurück, das er vor dem Kind aufschlägt. »Lies mir das vor.«
»Wo soll ich lesen?«
»Lies den Anfang.«
»Juan und María fahren aufs Meer hinaus. Heute fahren Juan und María aufs Meer hinaus. Der Vater sagt ihnen, dass ihre Freunde Pablo und Ramona mitkommen dürfen. Juan und María sind begeistert. Die Mutter schmiert Brote für den Ausflug. Juan –«
»Halt!«, sagt Señor León. »Wie hast du innerhalb von vierzehn Tagen lesen gelernt?«
»Er hat viel Zeit mit
Don Quijote
verbracht«, schaltet er, Simón, sich ein.
»Lassen Sie den Jungen für sich selbst sprechen«, sagt Señor León. »Wenn du vor vierzehn Tagen nicht lesen konntest, wieso kannst du dann heute lesen?«
Der Junge zuckt mit den Schultern. »Es ist leicht.«
»Sehr gut, wenn Lesen so leicht ist, dann erzähl mir, was du gelesen hast. Erzähl mir eine Geschichte aus
Don Quijote
.«
»Er fällt in ein Loch im Boden und keiner weiß, wo er ist.«
»Ja?«
»Dann entkommt er. Mit einem Seil.«
»Und was noch?«
»Sie sperren ihn in einen Käfig und er kackt sich in die Hosen.«
»Und warum machen sie das – ihn einsperren?«
»Weil sie nicht glauben, dass er Don Quijote ist.«
»Nein. Sie machen es, weil es keine solche Person Don Quijote gibt. Weil Don Quijote ein erfundener Name ist. Sie wollen ihn nach Hause bringen, damit er wieder zu Sinnen kommt.«
Der Junge wirft ihm, Simón, einen zweifelnden Blick zu.
»David liest das Buch auf seine Weise«, sagt er zu Señor León. »Er hat eine lebhafte Phantasie.«
Señor León lässt sich nicht zu einer Antwort herab. »Juan und Pablo gehen angeln«, sagt er. »Juan fängt fünf Fische. Schreib das an die Tafel: fünf. Pablo fängt drei Fische. Schreib das unter die fünf: drei. Wie viele Fische fangen sie zusammen, Juan und Pablo?«
Der Junge steht vor der Tafel, hat die Augen zugekniffen,
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