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Die Klaue des Schlichters

Die Klaue des Schlichters

Titel: Die Klaue des Schlichters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gene Wolfe
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gehen.
    »Funktioniert nicht«, sagte ich. »Ich werd’ sie tragen müssen.«
    »Leg sie über die Schulter, oder du hältst sie genau da, wo es am ärgsten ist.«
    Dorcas trug Terminus Est, und ich tat, was sie vorgeschlagen hatte. Jolenta war, wie sich zeigte, fast so schwer wie ein Mann. Eine ganze Weile trotteten wir so unter dem hellgrünen Laubdach voran, bis Jolenta schließlich die Augen öffnete. Aber selbst jetzt konnte sie ohne Hilfe noch nicht stehen, geschweige denn gehen, oder auch nur mit den Fingern das unvergleichliche Haar zurückstreichen, damit wir ihr tränenüberströmtes Gesicht besser sähen.
    »Der Doktor will mich nicht bei sich haben«, sagte sie schluchzend.
    Dorcas nickte. »Offenbar nicht.« Sie redete wie zu einem viel jüngeren Ding.
    »Ich werde zugrunde gehen.«
    Ich fragte sie, warum sie so spreche, aber sie schüttelte nur den Kopf. Nach einer Weile fragte sie: »Darf ich mit dir gehen, Severian? Ich habe kein Geld. Baldanders hat mir alles genommen, was ich vom Doktor bekommen habe.« Sie warf einen scheelen Blick auf Dorcas. »Sie hat auch Geld –mehr als ich hatte. So viel, wie du vom Doktor erhalten hast.«
    »Er weiß das«, sagte Dorcas. »Und er weiß, alles, was ich habe, ist sein, wenn er will.«
    Ich wechselte das Thema. »Vielleicht solltet ihr beide wissen, daß ich womöglich gar nicht nach Thrax gehe – oder zumindest nicht auf direktem Wege. Nicht, wenn ich ausfindig machen kann, wo sich der Orden der Pelerinen aufhält.«
    Jolenta sah mich an, als hätte ich den Verstand verloren. »Ich habe gehört, sie ziehen durch die ganze Welt. Außerdem nehmen sie nur Frauen auf.«
    »Ich will ihnen nicht beitreten, ich will sie nur finden. Daß sie auf dem Weg in den Norden seien, ist das Neueste, was ich weiß. Aber wenn ich feststellen kann, wo sie sind, muß ich zu ihnen – sogar wenn ich deswegen wieder in den Süden umkehren müßt’.«
    »Ich gehe, wohin du gehst«, versicherte Dorcas. »Nicht nach Thrax.«
    »Und ich gehe nirgendwohin«, stöhnte Jolenta.
    Sobald wir Jolenta nicht mehr stützen mußten, gingen Dorcas und ich ein kleines Stück voraus. Nach einer Zeitlang drehte ich mich nach ihr um und erkannte die Schönheit, die einst Dr. Talos begleitet hatte, kaum wieder. Sie hatte den Kopf stolz – ja arrogant hoch getragen. Die Schultern waren zurückgeworfen gewesen, und die Augen hatten wie Smaragde gefunkelt. Nun hingen die Schultern müde herab, und der Blick war trüb und zum Boden gesenkt.
    »Was hattest du mit dem Doktor und dem Riesen besprochen?« fragte Dorcas beim Weitergehen.
    »Das sagte ich bereits«, antwortete ich.
    »Einmal sprachst du so laut, daß ich es verstehen konnte. Du sagtest: ›Weißt du, wer der Schlichter gewesen ist?‹ Aber mir war nicht klar, ob du es selbst nicht wußtest oder nur feststellen wolltest, ob sie es wüßten.«
    »Ich weiß darüber sehr wenig – eigentlich nichts. Ich habe Bilder gesehen, die ihn angeblich darstellen, aber sie unterscheiden sich so, daß es kaum ein und derselbe sein kann.«
    »Es gibt Legenden.«
    »Die meisten, die ich zu hören bekommen habe, klingen sehr dumm. Ich wünschte, Jonas wäre hier; er würde sich der armen Jolenta annehmen und wüßte etwas über den Schlichter. Jonas war derjenige, den wir am Erbärmlichen Tor trafen, derjenige auf dem Merychippus. Er war mir eine Weile ein guter Freund.«
    »Wo ist er jetzt?«
    »Das wollte Dr. Talos in Erfahrung bringen. Ich weiß es nicht, und ich will nicht darüber sprechen. Erzähl mir was über den Schlichter, wenn du reden willst!«
    Gewiß war es unsinnig, aber sobald ich diesen Namen aussprach, drückte die Stille des Waldes wie eine Last auf mich. Das Ächzen eines Windstoßes irgendwo in den Wipfeln hätte das Ächzen von einem Krankenlager sein können; das Hellgrün des düsteren Waldes erinnerte an die bleichen Gesichter ausgehungerter Kinder.
    »Niemand weiß viel über ihn«, begann Dorcas, »und ich vermutlich noch weniger als du. Jedenfalls sagen die einen, er sei nicht viel mehr als ein Knabe gewesen. Andere sagen, er sei überhaupt kein Mensch gewesen – auch kein Cacogentile, sondern der für uns fühlbare Gedanke einer gewaltigen Intelligenz, für die unsere Realität nicht wirklicher als das Papptheater von Spielzeughändlern ist. Es geht die Sage, daß er einmal eine sterbende Frau bei der einen Hand und einen Stern mit der anderen genommen und von da an die Macht gehabt hat, das Universum mit der Menschheit und die

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