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Die Klaue des Schlichters

Die Klaue des Schlichters

Titel: Die Klaue des Schlichters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gene Wolfe
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nichtsahnend in seinen Schlund kriechen, so daß sie tot sind, während sie sich noch am Leben wähnen; obschon andere behaupten, Uroboros sei nur der große Fluß dort, der zur eigenen Quelle strömt, oder gar die See, die die eigenen Anfänge verschlingt.«
    Dorcas rückte näher, während sie all das erzählte, und ich legte meinen Arm um sie, denn ich spürte, daß sie mich lieben wollte, obzwar wir uns nicht sicher sein konnten, daß Jolenta an der anderen Seite des Feuers schlief. Tatsächlich rührte sie sich von Zeit zu Zeit und wirkte dabei wegen ihrer vollen Hüften, schmalen Taille und buschigen Haare selbst wie eine sich ringelnde Schlange. Dorcas hob ihr kleines, tragisch reines Gesicht an das meine, und ich küßte sie und spürte, wie sie sich, vor Verlangen zitternd, an mich schmiegte.
    »Mir ist so kalt«, sagte sie.
    Sie war nackt, obgleich ich nicht gesehen hatte, daß sie sich auszog. Als ich meinen Mantel um sie legte, erglühte ihre Haut – wie die meine – in der Hitze der Lohe. Ihr Händchen glitt kosend unter mein Gewand.
    »So gut«, sagte sie. »So glatt.« Und dann (obschon es nicht das erste Mal für uns war): »Werd’ ich nicht zu klein sein?« – wie ein Kind.
     
    Als ich erwachte, hatte den Mond (es war fast nicht zu glauben, daß es derselbe Mond war, der mich durch den Garten des Hauses Absolut geleitet hatte) der steigende Westhorizont fast schon eingeholt. Sein meergrünes Licht überströmte den Fluß und zeichnete jede Kräuselung mit dem schwarzen Schatten einer Welle.
    Ich fühlte mich unruhig, ohne den Grund dafür zu kennen. Jolentas Angst vor Raubtieren schien mir nicht mehr so töricht wie zuvor, und ich stand auf, vergewisserte mich, daß sie und Dorcas unversehrt waren, und sammelte neues Holz für unser niedergebranntes Feuer. Es kamen mir die Notulen in den Sinn, die oft des Nachts ausgeschickt wurden, wie Jonas mir erzählt hatte, und das Ding im Vorzimmer. Nachtvögel zogen am Himmel – nicht nur Eulen, wie sie massenhaft in den verfallenen Türmen der Zitadelle nisteten, Vögel mit runden Köpfen und kurzen, breiten, leisen Schwingen, sondern auch andere Vögel mit zwei- und dreifach gegabelten Sterzen, Vögel die niederstießen und über das Wasser segelten und im Fluge zwitscherten. Hin und wieder flatterten Nachtfalter von einer Größe, wie ich sie noch nie gesehen hatte, von Baum zu Baum. Ihre gemusterten Flügel waren so lang wie Männerarme, und sie tuschelten miteinander wie Menschen, aber mit fast unhörbar hohen Stimmen.
    Nachdem ich das Feuer geschürt, mich meines Schwertes vergewissert und eine Weile Dorcas’ unschuldiges Gesicht mit den langen, zarten, im Schlaf geschlossenen Wimpern betrachtet hatte, legte ich mich wieder hin, um die Reise der Vögel zwischen den Gestirnen zu beobachten und jene Gedächtniswelt zu betreten, die mir, ganz gleich wie süß oder bitter, nie ganz verschlossen ist.
    Ich versuchte, mich an den Festtag der Heiligen Katharina in dem Jahr nach meiner Ernennung zum Lehrlingswart zu erinnern; aber kaum waren die Vorbereitungen zur Feier begonnen, drängten sich mir andere ungebetene Andenken auf. In unserer Küche führte ich einen Becher gestohlenen Weins an die Lippen – und stellte fest, er wurde zur Brust, in die warme Milch geschossen war. Diese wurde zur Brust meiner Mutter, und ich konnte meine Freude (welche die Erinnerung vielleicht verwischt hätte) kaum bändigen, endlich nach so vielen fruchtlosen Versuchen zu ihr zurückgelangt zu sein. Meine Arme versuchten, sie zu umfassen, und ich wollte, hätt’ ich’s nur vermocht, den Blick heben, um in ihr Gesicht zu sehen. Gewiß meine Mutter, denn die Kinder, welche die Folterer an sich nehmen, kennen keine Brust. Das Graue am Rande meines Blickfelds wurde nun zum Metall ihrer Zellen wand. Bald würde sie abgeführt werden, um im Apparat zu schreien oder in Allowins Halsband zu keuchen. Ich versuchte sie zurückzuhalten, den Augenblick zu kennzeichnen, so daß ich jederzeit zu ihm wiederkehren könnte; sie entschwand, noch während ich sie an mich binden wollte, und löste sich auf wie Nebel, wenn ein Wind weht.
    Ich war wieder ein Kind … ein Mädchen … Thecla. Ich stand in einem Prunkgemach, dessen Fenster Spiegel waren; Spiegel, die gleichzeitig erhellten und reflektierten. Mich umgaben schöne Frauen, doppelt so groß und größer als ich, in verschiedenen Stadien des Entkleidens. Die Luft war mit üppigen Düften beladen. Ich suchte jemand, aber als ich in

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