Die Klaue des Schlichters
die bemalten Gesichter der großen Frauen, lieblich und wahrhaft vollkommen, blickte, bekam ich Zweifel, ob ich sie erkennen würde. Tränen rannen mir über die Wangen. Drei Frauen eilten zu mir, und ich starrte sie reihum an. Dabei schmolzen ihre Augen zu Lichtpunkten zusammen, und ein herzförmiger Fleck bei den Lippen der mir nächsten entfaltete spinnwebartige Flügel.
»Severian!« Ich setzte mich auf in der Ungewißheit, an welchem Punkt meine Erinnerung zum Traum geworden war. Diese Stimme war voller Liebreiz, wenn auch sehr tief, und obgleich mir bewußt war, daß ich sie schon einmal gehört hatte, konnte ich mich ihrer zunächst nicht entsinnen. Der Mond stand nun fast hinter dem Westhorizont, und unser Feuer starb einen zweiten Tod. Dorcas hatte ihre zerlumpte Decke weggestoßen, so daß die Nachtluft ihren elfischen Leib ungehindert bestrich. Als ich sie so sah, ihre bleiche Haut noch bleicher im schwindenden Mondlicht, außer wo die letzte Glut sie mit rotem Schein wärmte, überkam mich ein Verlangen, wie ich es noch nie empfunden hatte – nicht als ich Agia auf der Adamnischen Treppe an mich drückte, nicht als ich zum erstenmal Jolenta auf Dr. Talos’ Bühne sah, nicht einmal bei den unzähligen Gelegenheiten, da ich in Theclas Zelle eilte. Dennoch war es nicht Dorcas, die ich begehrte; ich hatte sie erst vor einer kurzen Weile beschlafen, und obschon ich fest überzeugt war, daß sie mich liebte, konnte ich mir nicht sicher sein, ob sie sich mir so bereitwillig hingegeben hätte, wenn sie nicht mehr als einen Verdacht, ich hätte Jolenta am Nachmittag vor der Aufführung genommen, gehegt oder nicht vermutet hätte, Jolenta sähe uns von der anderen Seite des Feuers zu.
Ich begehrte auch nicht Jolenta, die auf der Seite lag und schnarchte. Vielmehr wollte ich sie beide und Thecla und die namenlose Buhlin, die sich im Azurnen Haus als Thecla ausgegeben hatte, und ihre Freundin, die Thea nachgeahmt und die ich im Haus Absolut auf der Treppe gesehen hatte. Und Agia, Valeria, Morwenna und tausend mehr. Ich entsann mich der Hexen, ihres Wahns und ihrer ausgelassenen Reigen in Regennächten auf dem Großen Platz; der kühlen, jungfräulichen Schönheit der rotgewandeten Pelerinen.
»Severian!«
Es war kein Traum. Schläfrige Vögel, im Geäst am Waldesrand hockend, hatte die Köpfe gereckt bei diesem Laut. Ich zog Terminus Est und ließ die Klinge im kalten Licht der Morgendämmerung blitzen; wer immer mich auch gerufen hatte, er sollte wissen, daß ich bewaffnet war.
Alles wurde wieder still – stiller denn je zuvor in einer Nacht. Ich wartete ab und drehte langsam den Kopf, um den Rufer ausfindig zu machen, obwohl es vorteilhafter gewesen wäre, ihm den Eindruck zu geben, ich würde seinen Standort bereits kennen. Dorcas regte sich und ächzte, aber weder sie noch Jolenta wurden wach; bis auf das Knistern des Feuers, des Rascheln des Morgenwinds im Laub und das Plätschern des Wassers war nichts zu hören.
»Wo bist du?« flüsterte ich, erhielt aber keine Antwort. Ein Fisch sprang, silbrig spritzend, und alles war wieder still.
»Severian!«
So tief sie auch klang, es war eine Frauenstimme, vor Leidenschaft bebend, süß vor Verlangen; Agia kam mir in den Sinn, und ich steckte das Schwert nicht in die Scheide.
»Die Sandbank … «
Obschon ich befürchtete, man wolle mit dieser List nur bezwecken, daß ich den Bäumen den Rücken zukehrte, ließ ich meinen Blick über den Fluß gleiten, bis ich sie, etwa zweihundert Schritt vom Feuer entfernt, sah.
»Komm zu mir!«
Es war keine List, zumindest keine solche, wie ich zunächst angenommen hatte. Die Stimme kam, ein Stück flußabwärts, vom Wasser.
Komm! Bitte! Ich kann dich nicht hören von dort, wo du stehst.«
Ich erwiderte: »Ich habe nichts gesagt«, erhielt aber keine Antwort. Da ich Dorcas und Jolenta ungern allein ließ, zauderte ich.
»Bitte! Wenn die Sonne dieses Wasser erreicht, muß ich gehen. Vielleicht bietet sich nie mehr eine zweite Gelegenheit.«
Der Fluß war an der Sandbank breiter als darüber oder darunter, und ich konnte auf dem gelben Sand trockenen Fußes fast bis zur Mitte gehen. Zu meiner Linken wurde das grünliche Wasser allmählich schmaler und tiefer. Zu meiner rechten lag eine etwa zwanzig Schritt breite, tiefe Stelle, aus der das Wasser schnell, aber glatt abfloß. Terminus Est mit beiden Händen umschlossen, die eckige Spitze zwischen meinen Füßen eingepflanzt, stand ich auf dem Sand und sagte: »Ich
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