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Die Klaue des Schlichters

Die Klaue des Schlichters

Titel: Die Klaue des Schlichters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gene Wolfe
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Schatten unter der lappigen Haut ihres Halses.
    »Schließt alle die Augen … Es ist eine Dame hier, die ich nicht kenne, eine hohe Dame in Fesseln … Schon gut, Folterer, ich kenne sie jetzt … Daß mir keiner die Hand losläßt.«
    In der Benommenheit, die Vodalus’ Bankett gefolgt war, hatte ich erlebt, was es hieß, mit einem anderen das Denken zu teilen. Nun war es anders. Die Sibylle erschien nicht so, wie ich sie gesehen hatte, oder als jüngerere Version ihrer selbst oder (so hatte ich den Eindruck) als sonst etwas. Vielmehr spürte ich, wie sich ihre Gedanken um die meinen legten, wie ein Fisch in einem Glas in einer unsichtbaren Wasserblase schwimmt. Thecla war bei mir, aber ich konnte sie nicht ganz sehen. Mir war, als stände sie hinter mir; bald sah ich ihre Hand auf meiner Schulter, bald fühlte ich ihren Atem auf meiner Wange.
    Dann war sie verschwunden, und mit ihr alles übrige. Ich spürte, wie meine Gedanken, verloren in den Ruinen, in die Nacht hinausgetragen wurden.
     
    Als ich wieder zu mir kam, lag ich auf dem Dach neben dem Feuer. Vor meinen Mund war Schaum aus Speichel und Blut getreten, denn ich hatte mir Lippen und Zunge zerbissen. Meine Beine waren so schwach, daß ich nicht aufstehen konnte, aber ich vermochte mich aufzusetzen.
    Zunächst glaubte ich, die anderen seien nicht mehr da. Das Dach unter mir war fest, aber die anderen hatten sich in spukartig verschwommene Erscheinungen aufgelöst. Ein Gespenst Hildegrin lag ausgestreckt zu meiner Rechten –ich hielt die Hand an seine Brust und fühlte das Herz dagegenschlagen wie ein Nachtfalter, der zu entkommen sucht.
    Jolenta war am benommensten, fast weggetreten. Man hatte mit ihr mehr gemacht, als Merryn vermutet hatte; ich sah Drähte und Metallstreifen unter ihrem Fleisch hervorschimmern. Ich schaute dann auf mich und meine Beine und bemerkte, daß die Klaue wie eine blaue Flamme durch das Leder meines Stiefels strahlte. Ich griff danach, hatte aber keine Kraft in den Fingern und konnte sie nicht hervorziehen.
    Dorcas schien zu schlafen. Über ihre Lippen floß kein Schaum, und ich konnte sie deutlicher als Hildegrin sehen. Merryn war zu einer schwarzgewandeten Puppe zusammengesackt – so dünn und verschwommen, daß Dorcas neben ihr richtig robust wirkte. Da keine Intelligenz mehr diese elfenbeinerne Maske belebte, zeigte sie sich mir als bloßes Pergament über Knochen.
    Wie ich angenommen hatte, war die Sibylle gar keine Frau; allerdings war sie auch keine dieser Schreckensgestalten, die ich im Garten des Hauses Absolut erblickt hatte. Etwas schlüpfrig Schlangenhaftes wand sich um die leuchtende Wurzel. Ich suchte nach dem Kopf, aber fand ihn nicht, obschon ein jedes Muster auf dem Rücken der Natter ein Gesicht mit verzückten Augen war.
    Dorcas erwachte, während ich mich reihum in der Runde umsah. »Was ist mit uns geschehen?« fragte sie. Hildegrin regte sich.
    »Ich glaube, wir sehen uns aus einer Perspektive, die länger als ein einziger Augenblick ist.«
    Ihr Mund öffnete sich, aber kein Schrei drang über ihre Lippen.
    Obwohl mit den finsteren Wolken kein Wind aufgekommen war, wirbelte Staub durch die Straßen unter uns. Ich weiß nicht, wie ich es anders beschreiben soll als zu sagen, es handelte sich anscheinend um eine unzählige Schar winziger Insekten, hundertmal kleiner als Mücken, die in den Fugen des krummen Pflasters verborgen gewesen waren und nun, vom Mondschein angelockt, ihren Hochzeitsflug antraten. Ihre Bewegungen waren lautlos und ungeordnet, aber nach einer Weile schloß sich die wirre Masse zu Schwärmen zusammen, die hin und her schwirrten, immer größer und dichter wurden und sich schließlich wieder auf das Steinfeld niederließen. Es schien nun, als flögen die Insekten nicht mehr, sondern kröchen durch- und übereinander, der Mitte des Schwarms zustrebend. »Sie sind lebendig«, sagte ich.
    Aber Dorcas flüsterte: »Sieh doch, sie sind tot!«
    Sie hatte recht. Die bis vor einem Moment so lebensprühenden Schwärme boten sich dem Auge als bleiche Gerippe dar; die Staubkörnchen, die sich zusammenfügten, wie man alte Scherben zusammenfügt, um vor abertausend Jahren zu Bruch gegangene Glasmalereien wiederherzustellen, bildeten Schädel, die fahl im Mondschein schimmerten. Tiere – Aelurodonten, plumpe Speläen und schleichende Gestalten, für die ich keinen Namen hatte, bewegten sich – verschwommener als wir, die vom Dach zusahen – zwischen den Toten.
    Nach und nach standen sie auf, und

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