Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Klaue des Schlichters

Die Klaue des Schlichters

Titel: Die Klaue des Schlichters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gene Wolfe
Vom Netzwerk:
besser, du kümmerst dich um dein Tier, wie du sagst. Das meine hat sich offenbar losgerissen, so daß wir uns beim Heimritt auf dem deinen werden abwechseln müssen.« Jonas nickte und machte sich auf den Weg, den er herabgekommen war.
    »Ihr habt mir aufgelauert, nicht wahr?« fragte ich Agia. »Ich habe etwas gehört, und mein Tier hat die Ohren gespitzt. Das seid ihr gewesen. Warum habt ihr mich nicht bei dieser Gelegenheit getötet?«
    »Wir waren dort oben.« Sie zeigte in die Höhe. »Die Männer, die ich angeheuert hatte, sollten dich erschießen, als du den Bach heraufkamst. Die Männer waren blöd und stur, wie es Männer immer sind, und meinten, sie bräuchten ihre Bolzen nicht zu verschwenden – die Kreaturen in der Mine würden dich umbringen. Ich rollte einen Stein hinunter – den größten, den ich bewegen konnte – aber da war es schon zu spät.«
    »Hast du durch sie von der Mine erfahren?«
    Agia zuckte die Achseln, und der Mondschein verwandelte ihre bloßen Schultern in etwas Kostbareres und Schöneres als Fleisch. »Du wirst mich nun töten, was spielt es also noch für eine Rolle? Alle Einheimischen hier erzählen sich Geschichten über diesen Ort. Sie sagen, diese Wesen kämen nachts bei Unwetter heraus und würden Vieh von der Weide stehlen oder auf der Suche nach Kindern in Häuser einbrechen. Es geht auch die Sage, sie würden dort drinnen einen Schatz bewachen, also habe ich das ebenfalls in den Brief aufgenommen. Wärst du nicht wegen deiner Thecla gekommen, dacht’ ich, dann bestimmt deswegen. Darf ich dir den Rücken zukehren, Severian? Es ändert zwar nichts, aber ich möchte es wenigstens nicht sehen.«
    Als sie das sagte, fiel mir ein Stein vom Herzen: Ich war mir nicht sicher gewesen, ob ich es über mich gebracht hätte, zuzuschlagen, während sie mir ins Gesicht geblickt hätte.
    Ich hob den Eisenphallus, wobei mir war, als wollte ich Agia noch etwas fragen; aber es wollte mir nicht wieder einfallen.
    »Hau zu!« sagte sie. »Ich bin bereit.«
    Ich suchte einen guten Stand, und meine Finger fanden den Frauenkopf an einem Ende des Stichblatts, der die weibliche Schneide kennzeichnete.
    Und ein wenig später wiederum: »Hau zu!«
    Aber ich war inzwischen schon aus dem Tal geklettert.
     

 
VIII
 
Die Cultellarii
     
    Wir kehrten schweigend zum Gasthaus zurück und so langsam, daß im Osthimmel schon der Morgen graute, als wir ins Dorf gelangten. Während Jonas den Merychippus absattelte, sagte ich: »Ich habe sie nicht getötet.«
    Er nickte, ohne mich anzusehen. »Ich weiß.«
    »Hast du zugesehen? Du hast gesagt, du wolltest es nicht sehen.«
    »Ich hörte ihre Stimme, als du praktisch neben mir standest. Wird sie’s wieder versuchen?«
    Ich wartete und überlegte, während er den kleinen Sattel in die Geschirrkammer trug. Als er zurück war, erwiderte ich: »Ja, bestimmt wird sie das. Ich habe ihr kein Versprechen abverlangt, wenn du das meinst. Sie würde es sowieso nicht halten.«
    »Dann hätte ich sie getötet.«
    »Ja«, meinte ich, »das wäre vernünftig gewesen.«
    Wir gingen gemeinsam aus dem Stall. Es war nun so hell im Hof, daß wir den Brunnen und die breite Eingangstür sehen konnten.
    »Ich glaube nicht, daß es richtig gewesen wäre – ich will nur sagen, daß ich es getan hätte. Ich hätte mir vorgestellt, im Schlaf erdolcht zu werden, irgendwo in einem schmutzigen Bett zu sterben, und ich hätte ausgeholt. Es wäre nicht richtig gewesen.« Jonas hob den Streitkolben, den der Menschenaffe zurückgelassen hatte, und führte damit in Nachahmung eines Schwertstreichs einen wuchtigen, gnadenlosen Schlag aus. Der Kopf blitzte im Licht auf, und wir machten große Augen. Er war aus gehämmertem Gold.
     
    Keiner von uns hatte Lust, sich den Festlichkeiten anzuschließen, die der Jahrmarkt für jene, welche die ganze Nacht durchzecht hatten, noch zu bieten hatte. Wir zogen uns auf das Zimmer zurück, das wir uns teilten, und bereiteten uns aufs Schlafengehen vor. Als Jonas mir anbot, das Gold mit mir zu teilen, lehnte ich ab. Bis jetzt besaß ich Geld im Überfluß und den Vorschuß auf meinen Lohn, während er von meiner Großzügigkeit lebte. Nun war ich froh, daß er sich nicht mehr in meiner Schuld stehend fühlen müßte. Zugleich schämte ich mich, als ich sah, daß er mir hinsichtlich seines Goldes völlig vertraute, und als ich mich besann, wie sorgsam ich die Existenz der Klaue vor ihm verborgen hatte (und sogar noch verbarg). Ich fühlte mich

Weitere Kostenlose Bücher