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Die Klaue des Schlichters

Die Klaue des Schlichters

Titel: Die Klaue des Schlichters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gene Wolfe
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Thecla brachte, nahm ich an, es sei für Kinder oder für solche Erwachsene gedacht, die an kindischem Zeug Gefallen finden. Aber als wir über einige der darin ausgeführten Gedanken gesprochen hatten, wurde mir klar, daß sie so ausgedrückt sein mußten oder überhaupt nicht auszudrücken wären. Hätte der Verfasser eine neue Methode der Weinherstellung oder die besten Liebespraktiken beschreiben wollen, hätte er eine komplexe und exakte Sprache verwenden können. Aber in dem Buch, das er tatsächlich schrieb, mußte er sagen: ›Am Anfang war nur das Hexameron‹, oder: ›Es gilt nicht, die Statue still stehen zu sehen, sondern die Stille stehen zu sehn.‹ Das, was ich aus der Tiefe hörte – war das eins davon?«
    »Ich hab’s nicht gesehen.« Jonas erhob sich. »Ich gehe jetzt raus, um die Keule zu verkaufen, aber vorher will ich dir noch sagen, was ihren Männern früher oder später alle Frauen sagen: ›Ehe du weitere Fragen stellst, überlege dir, ob du wirklich eine Antwort hören willst.‹«
    »Eine Frage noch«, sagte ich, »die letzte, das versprech’ ich dir. Als wir durch die Mauer passierten, erklärtest du, die Gestalten, die wir da drinnen sahen, seien Soldaten, hier stationiert, um Abaia und die übrigen abzuwehren. Sind die Menschenaffen gleichartige Soldaten? Und falls ja, was können Krieger in Menschengröße ausrichten, wenn unsere Widersacher groß wie Berge sind? Und wieso haben die alten Autarchen keine menschlichen Soldaten benutzt?«
    Jonas hatte die Keule in einen Lappen gewickelt und legte sie von einer Hand in die andere, während er vor mir stand. »Das sind drei Fragen, von denen ich nur die zweite mit Gewißheit beantworten kann. Bei den anderen werde ich raten, allerdings binde ich dich an dein Versprechen; das ist das letzte Mal, daß wir über so etwas reden.
    Mit der letzten Frage will ich beginnen. Die alten Autarchen, die keine Autarchen waren oder wenigstens nicht so genannt wurden, verwendeten tatsächlich menschliche Soldaten. Aber die Krieger, die sie dadurch schufen, daß sie Tiere vermenschlichten oder Menschen vielleicht insgeheim entmenschlichten, waren treuer und gefügiger. Das mußten sie sein, denn die Bevölkerung – die ihre Herrscher haßte – haßte diese unmenschlichen Gefolgsleute um so mehr. Somit ließen sie sich einsetzen, wo Dinge zu ertragen waren, die kein Mensch aushielte. Deshalb vielleicht wurden sie in der Mauer verwendet. Es kann aber auch einen ganz anderen Grund haben.«
    Jonas hielt inne und schritt zum Fenster, wo er nicht hinaus auf die Straße, sondern hinauf zu den Wolken blickte. »Ich weiß nicht, ob deine Menschenaffen Hybriden gleicher Art sind. Derjenige, den ich zu Gesicht bekam, machte bis auf seinen Pelz einen ganz menschenähnlichen Eindruck, so daß ich geneigt bin, dir beizupflichten, es handle sich um Menschen, die als Folge ihres Lebens unter Tage und des Kontakts mit bestimmten Relikten der dort begrabenen Stadt einige wesentliche Wandlungen durchlaufen haben. Die Urth ist schon sehr alt, sehr alt, und gewiß sind in der Vergangenheit viele Schätze vergraben worden. Gold und Silber verändern sich nicht, aber ihre Wächter können Metamorphosen ausgesetzt sein, die seltsamer sind als jene, die Trauben in Wein und Sand in Perlen verwandeln.«
    Ich erwiderte: »Aber wir sind jede Nacht der Dunkelheit ausgesetzt, und die aus den Minen geförderten Schätze werden zu uns gebracht. Warum haben nicht auch wir uns gewandelt?«
    Jonas antwortete nicht, und ich besann mich auf mein Versprechen, ihn nichts mehr zu fragen. Als er sich jedoch mir zukehrte, lag etwas in seinen Augen, das mir sagte: aber wir haben uns gewandelt. Er wandte sich wieder um und blickte abermals hinaus und empor.
    »Nun gut«, räumte ich ein, »du brauchst mir darauf keine Antwort zu geben. Aber wie steht’s mit der anderen Erklärung, die du mir noch schuldig bist? Wie können menschliche Soldaten den Ungeheuern aus den Meeren widerstehen?«
    »Du hast recht, wenn du sagst, Erebus und Abaia seien so groß wie Berge, und ich gestehe, es erstaunt mich, daß du das weißt. Die meisten Leute können sich so etwas Gewaltiges nicht vorstellen und wähnen sie nicht größer als Häuser oder Schiffe. Die tatsächliche Größe ist so monströs, daß sie das Wasser nicht verlassen können, solange sie auf dieser Welt weilen – denn das eigene Gewicht würde sie zermalmen. Du darfst nicht glauben, sie würden mit den Fäusten die Mauer einschlagen oder mit

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