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Die Klaue des Schlichters

Die Klaue des Schlichters

Titel: Die Klaue des Schlichters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gene Wolfe
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nichts.«
    »Unter anderem verwendet er diesen Namen, ja. Er hielt es für außergewöhnlich genug, einen Folterer so weit von der Zitadelle entfernt zu sehen, und versprach sich etwas davon, dich beobachten zu lassen, obwohl er – um wieder auf mich zu kommen – keine Ahnung hatte, daß du mich an jenem Abend gerettet hattest. Leider verloren dich die Aufpasser an der Mauer aus den Augen; von da an verfolgten sie die Reise deiner Gefährten in der Hoffnung, du würdest dich ihnen wieder anschließen. Ich vermutete, daß ein Verbannter bereit wäre, für uns Partei zu ergreifen und den armen Barnoch so lange zu schonen, bis wir ihn hätten befreien können. Gestern abend ritt ich persönlich nach Saltus, um mit dir zu reden, aber zum Dank dafür wurde mir mein Reittier gestohlen, und ich erreichte rein gar nichts. Also war es heute erforderlich, dich mit allen Mitteln fortzuschaffen, damit du an meinem Diener dein Handwerk nicht ausüben konntest; da ich jedoch hoffte, du würdest mit uns trotz allem gemeinsame Sache machen, wies ich meine Männer, die ich schickte, an, dich lebend zu mir zu bringen. Dadurch verlor ich drei und gewann zwei. Die Frage ist nun, ob die zwei die drei aufwiegen.«
    Nun erhob sich Vodalus ein wenig schwankend; ich dankte der Heiligen Katharina, daß ich nicht ebenfalls aufstehen mußte, denn ich war mir sicher, meine Beine hätten mich nicht getragen. Etwas Düsteres und Weißes von der doppelten Größe eines Mannes segelte zum Gezwitscher der Upanga durch die Bäume. Jedermann reckte den Hals, und Vodalus glitt ihm entgegen. Thea beugte sich über seinen leeren Stuhl und raunte mir zu: »Ist sie nicht schön? Sie haben Wunder vollbracht.«
    Es handelte sich um eine Frau, die auf einer silbernen Bahre saß, welche sechs Männer auf den Schultern trugen. Zunächst glaubte ich, sie sei Thecla – so groß war die Ähnlichkeit im orangefarbenen Licht. Dann erkannte ich, daß es eher ein vielleicht aus Wachs geschaffenes Ebenbild war.
    »Man sagt, es sei gefährlich«, säuselte Thea, »wenn man den Geteilten im Leben gekannt hat; gemeinsame Erinnerungen können leicht den Verstand verwirren. Dennoch will ich, die ich sie geliebt, diese Verwirrung riskieren, was auch dein Wunsch ist, wie ich dir angesehen habe, als du von ihr gesprochen, weshalb ich Vodalus nichts gesagt habe.«
    Vodalus griff empor und hielt den Arm der stummen Figur, während sie durch den Kreis getragen wurde; ein süßer, unverkennbarer Geruch ging von ihr aus. Ich mußte an die Agutis unserer Maskierungsfeiern denken, deren Fell mit Kokosnüssen und deren Augen mit eingelegten Früchten garniert wurden, und wußte, daß dies die Nachgestaltung eines Menschen aus Bratfleisch war.
    In diesem Augenblick hätte ich wohl den Verstand verloren, wäre der Alzabo nicht gewesen. Ich stand zwischen meiner Wahrnehmung und der Wirklichkeit wie ein Riese aus Nebel, durch den alles sichtbar, aber nichts erfaßbar war. Ein weiterer Verbündeter gesellte sich hinzu: das in mir keimende Wissen, die Gewißheit, wenn ich nun bereitwillig einen Brocken der gegenständlichen Thecla hinunterschlänge, würden die Spuren ihres Sinnes, der andernfalls bald vergehen müßte, in mich eindringen und so lange wie ich – wenn auch verkümmert – fortdauern.
    Die Bereitschaft stellte sich ein. Das beabsichtigte Handeln schien mir nicht mehr verwerflich oder schrecklich. Vielmehr öffnete ich mich ihr ganz und schmückte mein innerstes Sein mit herzlichem Willkommen. Auch Begehren stellte sich ein, der Droge entspringend; ein Hunger, den keine andere Speise sättigen konnte, und als ich mich im Kreise umblickte, sah ich diesen Hunger in jedem Gesicht.
    Der livrierte Diener, der wohl zu Vodalus’ altem Haushalt gehört hatte und ihm in die Verbannung gefolgt war, trat zu den sechs Männern, die Thecla in den Kreis getragen hatten, und half ihnen beim Absetzen der Bahre. Ein paar Atemzüge lang verwehrten sie mir mit ihrem Rücken die Sicht. Als sie auseinandergingen, war Thecla verschwunden; zurückgeblieben waren nur dampfende Fleischstücke, die auf einer tischtuchähnlichen weißen Decke ausgebreitet lagen …
    Essend und wartend flehte ich um Vergebung. Sie hätte das prächtigste Grabmal aus kostbarstem Marmor von erlesenstem Ebenmaß verdient. Statt dessen sollte sie in meiner Folterwerkstatt mit seinem geschrubbten Boden und halb von Blumengewinden verhangenen Gerätschaften begraben werden. Die Nachtluft war frisch, dennoch schwitzte ich.

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