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Die Klaue des Schlichters

Die Klaue des Schlichters

Titel: Die Klaue des Schlichters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gene Wolfe
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Ich wartete, daß sie käme, während die Tropfen über meine bloße Brust rannen und ich vor mich auf den Boden starrte aus Furcht, ich könnte sie in den Gesichtern der anderen sehen, bevor ich ihre Anwesenheit in mir spürte.
    Ich verzweifelte schon – als sie da war und mich erfüllte, wie eine Melodie eine Hütte erfüllt. Ich war bei ihr, und wir liefen gemeinsam neben dem Acis. Ich kannte die alte, mit einem Graben umgebene Villa am Ufer eines dunklen Sees, den Ausblick durch die staubigen Fenster des Belvederes und das verschwiegene Plätzchen in einer Ecke zwischen zwei Zimmern, wo wir zur Mittagszeit saßen und im Kerzenschein lasen. Ich kannte das Leben am Hofe des Autarchen, wo in einem diamantenen Kelch Gift wartete. Ich erfuhr, was es für jemand, der noch nie eine Zelle gesehen oder eine Gerte gespürt hatte, hieß, in die Gefangenschaft der Folterer zu geraten; was Sterben bedeutete und Tod.
    Ich erfuhr, daß ich ihr mehr war, als ich je geahnt hätte, und fiel schließlich in einen Schlaf, in dem meine Träume alle von ihr waren. Nicht nur Erinnerungen – mit Erinnerungen war ich bereits reichlich versehen. Ich hielt die armen, kalten Hände in den meinen, und ich trug nunmehr weder die Lumpen eines Lehrlings noch das Schwarz eines Gesellen. Wir waren eins, nackt und glücklich und rein, und wir wußten, daß sie nicht mehr war, während ich noch lebte, und wir wehrten uns gegen nichts von alledem, sondern lasen mit verflochtenen Haaren aus einem einzigen Buch und redeten und sangen von anderen Dingen.
     

 
XII
 
Die Notulen
     
    Ich kam aus meinen Träumen von Thecla direkt in den Morgen. In einem Moment schritten wir stumm durch Gefilde, die sicherlich das Paradies waren, welches die Neue Sonne, wie man sagt, allen auftut, die sie in ihren letzten Augenblicken anrufen. Und obschon die Weisen lehren, daß es jenen verschlossen bleibt, die sich selbst richten, glaube ich einfach, daß sie, die so vieles vergibt, zuweilen auch das vergeben muß. Im nächsten Moment bemerkte ich Kälte und unfreundliches Licht und das Piepsen von Vögeln.
    Ich setzte mich auf. Mein Mantel war feucht vom Tau, und Tau bedeckte wie Schweiß mein Gesicht. Neben mir hatte Jonas sich zu regen begonnen. In zehn Schritt Entfernung standen, auf dem Zaumgebiß kauend und ungeduldig auf die Erde stampfend, zwei große Streitrosse – eins weiß wie Wein, das andere makellos schwarz. Vom Fest und von den Festgästen fehlte jede Spur; ebenso von Thecla, die ich nie wieder gesehen habe und die ich nun in diesem Dasein nicht mehr wiederzusehen hoffe.
    Terminus Est lag, in der festen, gut eingeölten Scheide geborgen, neben mir im Gras. Ich hob es auf und ging bergab, bis ich auf einen Bach stieß, wo ich mich, so gut es ging, frisch machte. Als ich zurückkam, war Jonas wach. Ich schickte ihn zum Wasser, und während er fort war, sagte ich der toten Thecla Lebewohl.
    Dennoch ist ein Teil von ihr noch bei mir; zuweilen bin ich als Denkender nicht Severian, sondern Thecla, gleichsam als wäre mein Verstand ein hinter Glas gerahmtes Bild, vor dem Thecla stünde, so daß sie sich im Glase spiegelte. Wenn ich seit jener Nacht an sie denke, ohne eine bestimmte Zeit und einen bestimmten Ort ins Visier zu nehmen, steht die Thecla, die in meiner Vorstellung auflebt, obendrein stets vor einem Spiegel in einem glänzenden, schneeweißen Gewand, das ihre Brüste nur spärlich bedeckt und in immer neuen Faltenwürfen von ihren Hüften fällt. Ich sehe sie für einen Moment davor verharren; sie hebt die Hände und streicht über unser Gesicht.
    Dann wird sie fortgewirbelt in einem Zimmer, dessen Wände und Decke und Boden allesamt aus Spiegeln sind. Zweifellos ist es ihre Erinnerung an ihr Abbild in diesen Spiegeln, die ich sehe, aber nach ein, zwei Schritten verschwindet sie in der Dunkelheit, und ich sehe sie nicht mehr.
     
    Als Jonas zurückkehrte, hatte ich meinen Kummer bezähmt und vermochte sogar, bei ihm den Eindruck zu erwecken, ich sähe mir gerade unsere Reittiere näher an. »Der schwarze ist für dich«, meinte er, »und der Schimmel natürlich für mich, obwohl beide offenbar für einen jeden von uns zu wertvoll sind, wie der Seemann zum Chirurgen sagte, der ihm die Beine abnahm. Wohin geht es?«
    »Zum Haus Absolut.« Ich sah sein ungläubiges Gesicht. »Hast du nicht gehört, was mir Vodalus in der Nacht gesagt hat?«
    »Ich hörte, daß davon die Rede war, aber nicht, daß wir dorthin sollten.«
    Ich bin, wie schon gesagt,

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