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Die Klaue des Schlichters

Die Klaue des Schlichters

Titel: Die Klaue des Schlichters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gene Wolfe
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völlig fremd ist. Wie wir haben sie Augen, Nase und Mund; aber sie verwenden diese Züge (die, wie gesagt, vollkommen sind) um Emotionen auszudrücken, die wir nie empfunden haben, so daß wir beim Betrachten ihres Gesichtes den Eindruck bekommen, ein uraltes, schreckliches Alphabet der Gefühle zu sehen, das uns zugleich höchst wichtig und zugleich auch unverständlich scheint.
    Eine solche Rasse gibt es, obschon ich ihr dort am Rande der Gärten des Hauses Absolut nicht begegnet bin. Was ich zwischen Bäumen erspäht hatte und worauf ich nun – zumindest bis ich es deutlich sah – zueilte, war vielmehr ein monströses, lebendig gewordenes Abbild eines solchen Wesens. Sein Fleisch bestand aus weißem Stein, und seine Augen hatten die runde, blinde Glätte (wie eine halbe Eierschale), wie wir sie von unseren eigenen Statuen kennen. Es bewegte sich langsam wie ein Berauschter oder Schlafwandler, aber ohne zu schwanken. Es war wohl blind, hatte aber offenbar ein – wenn auch träges – Wahrnehmungsvermögen.
     
    Ich habe gerade innegehalten, um zu überlesen, was ich darüber geschrieben, und stelle fest, daß ich versäumt habe, das Wesentliche davon auch nur anzudeuten. Es war dem Geiste nach eine Skulptur. Wenn irgendein gestürzter Engel mein Gespräch mit dem grünen Mann belauscht hätte, hätte er vielleicht ein solches Rätsel ersonnen, um mich zu verhöhnen. Jede seiner Bewegungen vermittelte die Ruhe und Dauerhaftigkeit von Kunst und Stein; ich glaubte, jede Geste, jede Haltung des Hauptes, der Glieder und des Rumpfes sei die letzte. Oder daß eine jede sich vielleicht endlos wiederholte, wie die Stellungen der Zeiger auf Valerias facettenreicher Uhr sich durch die gewundenen Korridore der Sekunden wiederholten.
    Nachdem die wunderliche weiße Statue mir meine Todessehnsucht genommen hatte, war der erste Schreck die instinktive Angst, sie könnte mir etwas tun.
    Der zweite war, daß sie das nicht versuchen könnte. Wenn man sich so vor etwas fürchtet wie ich vor dieser stummen, unmenschlichen Gestalt und dann feststellt, daß es einem gar nichts tun will, ist unerträglich erniedrigend. Den Schaden, den ein Schlag auf diesen lebenden Stein an seiner Klinge anrichtete, einen Moment mißachtend, zückte ich Terminus Est und hielt den Rappen an. Sogar der Wind schien sich zu legen, als wir, der kaum bebende Rappe und ich mit erhobenem Schwert, fast starr wie Statuen dort standen. Die eigentliche Statue, deren drei- bis viermal überlebensgroßes Gesicht von unvorstellbarer Emotion geprägt und deren Glieder mit schrecklicher, vollendeter Schönheit angetan waren, hielt auf uns zu.
    Ich hörte Jonas schreien und etwas knallen. Gerade noch sah ich, wie er auf dem Boden mit Männern rang, die hohe Helme mit kammartigen Aufsätzen trugen und vor meinen Augen verschwanden und wiederauftauchten, als etwas an meinem Ohr vorübersauste; dann traf mich etwas am Handgelenk, und ich fand mich in einem Netz aus Seilen wieder, das sich um mich zusammenzog wie kleine Schlangen. Jemand packte mich am Bein und zog, so daß ich stürzte.
     
    Als ich mich soweit erholt hatte, daß ich bemerkte, was vor sich ging, lag eine Drahtschlinge um meinen Hals, und einer der Angreifer durchwühlte meine Gürteltasche. Deutlich sah ich seine Hände, die wie braune Sperlinge umherhuschten. Auch sein Gesicht war erkennbar, eine teilnahmslose Fratze, die wie am Faden eines Zauberers hängend vor mir schwebte. Hin und wieder blitzte bei seinen Bewegungen die außergewöhnliche Rüstung auf; dann sah ich sie, wie man einen in klares Wasser getauchten Kristallbecher sieht. Sie spiegelte und hatte einen Glanz, der wohl nicht bloß Menschenwerk sein konnte, so daß das eigentliche Material unsichtbar blieb, während die Grün- und Brauntöne des Waldes, von der Form von Küraß, Halsberge und Beinschienen verzerrt, ins Auge stachen.
    Trotz meiner Proteste, daß ich ein Mitglied der Gilde sei, nahm der Prätorianer alles Geld, das ich besaß (ließ mir jedoch Theclas braunes Buch, das letzte Stück Wetzstein, Öl und Wolltuch und verschiedene andere Kleinigkeiten in meiner Gürteltasche). Dann löste er geschickt die Seile, in die ich verstrickt war, und schob sie in das Armloch seines Brustharnisches, so daß ich sie kurz sehen konnte. Sie erinnerten mich an die Peitsche, die wir »Katze« nennen und die aus vielen Riemen besteht, welche an einem Ende verbunden und am andern beschwert sind; wie ich inzwischen weiß, heißt diese Waffe

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