Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Klaue des Schlichters

Die Klaue des Schlichters

Titel: Die Klaue des Schlichters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gene Wolfe
Vom Netzwerk:
standhalten wollen, bis sie von so vielen umzingelt gewesen sind, daß sie sie nicht mehr haben abwehren können.«
    Eines der Augen des Ulanen war halb offen. Ich hatte schon oft Leichen gesehen, aber ich konnte das eklige Gefühl nicht loswerden, daß er mich beobachtete – den Mann, der ihn in den Tod gehetzt hatte, um die eigene Haut zu retten. Um auf andere Gedanken zu kommen, sagte ich: »Nachdem ich das erste zerteilt hatte, schien es langsamer zu fliegen.«
    Jonas hatte das entsetzliche Ding, das er herausgezogen hatte, in die Büchse gleiten lassen und holte ein zweites aus dem rechten Nasenloch heraus; er murmelte: »Die Geschwindigkeit eines jeden fliegenden Gegenstandes ist abhängig von seiner Flügelfläche. Wenn das nicht der Fall wäre, würden die Adepten, die sich dieser Kreaturen bedienen, sie vor der Aussendung wohl in Stücke reißen.« »Das hört sich an, als hättest du schon einmal damit Bekanntschaft gemacht.«
    »Wir haben einmal in einem Hafen angelegt, wo man sie für rituelle Morde verwendet hat. Ist wohl unvermeidlich gewesen, daß jemand sie mit heimgebracht hat, obwohl das die ersten sind, die ich hier zu Gesicht bekomme.« Er öffnete den Büchsendeckel und legte das zweite rußschwarze Ding aufs erste, das sich schwerfällig bewegte. »Da drin vereinigen sie sich wieder – so verfahren auch die Adepten, um sie wieder ganz zu bekommen. Es wird dir zwar nicht aufgefallen sein, aber die Jagd durch den Wald hat sie ein bißchen zerfleddert, und sie sind während des Fluges wieder heil geworden.«
    »Da ist noch eins«, sagte ich. Er nickte und gebrauchte seine Stahlhand, um dem Toten gewaltsam den Mund zu öffnen; statt Zähnen, bläulicher Zunge und blutlosem Zahnfleisch zeigte sich uns ein schier bodenloser Schlund, so daß mein Magen sich zusammenkram-pfte. Jonas zog die dritte Kreatur heraus, an der der Speichel des Toten klebte.
    »Hätte er nicht noch ein Nasenloch oder den Mund frei gehabt, wenn ich das Ding nicht ein zweites Mal zertrennt hätte?«
    »Erst wenn sie sich in die Lungen vorgearbeitet hätten. Wir hatten wirklich Glück, daß wir so schnell zur Stelle sein konnten. Sonst hätten wir ihm den Leib eröffnen müssen, um sie zu erwischen.«
    Die Rauchfahne erinnerte mich an die brennende Zeder. »Wenn sie doch auf Wärme aus waren …«
    »Sie bevorzugen die Wärme eines Lebewesens, obwohl man sie manchmal mit einem Feuer aus lebenden Pflanzen ablenken kann. Eigentlich ist es nicht nur Wärme, glaub’ ich. Vielleicht eine abstrahlende Energie, die wachsenden Zellen zueigen ist.« Jonas streckte die dritte Kreatur in die Büchse und verschloß den Deckel. »Wir haben sie Notulen genannt, weil sie für gewöhnlich nach Einbruch der Dämmerung auftauchen, wenn sie fast unsichtbar sind; aber ich habe keine Ahnung, wie die Einheimischen sie nennen.«
    »Wo ist diese Insel?«
    Er sah mich sonderbar an.
    »Ist es weit von der Küste? Ich wollte schon immer Uroboros sehen, obzwar es wohl nicht ungefährlich ist.«
    »Sehr weit«, antwortete Jonas tonlos. »Wirklich sehr weit. Warte einen Moment!«
    Ich wartete und sah ihn ans Flußufer gehen. Er schleuderte die Büchse mit aller Kraft – fast in der Mitte des Stromes schlug sie im Wasser auf und versank. Als er wieder bei mir war, fragte ich: »Hätten wir diese Dinger nicht selbst benutzen können? Wer immer sie geschickt hat, wird nun höchstwahrscheinlich noch nicht aufgeben, und wir hätten sie gebrauchen können.«
    »›Sie gehorchen uns doch nicht, und die Welt ist ohne sie besser dran‹, wie die Frau des Schlachters sagte, als sie ihm seine Männlichkeit abschnitt. Und nun sollten wir besser aufbrechen. Es kommt jemand über die Straße.«
    Ich blickte, wohin Jonas deutete, und sah zwei Gestalten zu Fuß näherkommen. Er hatte sein Roß, das im Fluß trank, am Halfter ergriffen und war im Begriff aufzusitzen. »Wart!« bat ich. »Oder geh ein, zwei Ketten voraus und warte dort!« Der blutende Armstumpf des Menschenaffen kam mir in den Sinn, und ich sah scheinbar die geweihten Lichter der Kathedrale mit ihrem schwachen, karmesin- und magentaroten Schein zwischen den Bäumen hängen. Ich griff in meinen Stiefel, ganz hinunter, wohin ich sie zur Sicherheit gesteckt hatte, und zog die Klaue heraus.
    Das war das erste Mal, daß ich sie bei vollem Tageslicht sah. Sie blitzte und strahlte wie die Neue Sonne selbst, nicht nur blau, sondern in allen Farben von Violett bis Ultramarin. Ich legte sie dem Ulanen auf die Stirn

Weitere Kostenlose Bücher