Die Klaue des Schlichters
stieß.
Er preschte los. Eine halbe Meile oder länger jagten wir entlang des schmalen Streifens, der die Straße vom Fluß trennte. Als ich endlich Jonas bemerkte, galoppierte ich zu ihm, um ihn zu warnen und ihm vom Gesehenen zu berichten.
Während ich erzählte, war er offenbar in Gedanken versunken. Als ich geschlossen hatte, erwiderte er: »Ich weiß nichts von einem solchen Ding, das du schilderst, aber es mag viele Importe von Ländern unter fernen Sternen geben, von denen ich nichts ahne.«
»Aber so etwas würde doch sicherlich nicht frei herumwandern wie eine streunende Kuh!«
Anstatt zu antworten, deutete Jonas auf eine Stelle ein paar Schritte vor uns.
Ein Kiesweg von kaum einer Elle Breite wand sich durch das Gehölz. Ihn säumten mehr wilde Blumen, als ich in der freien Natur je auf einem Fleck gesehen hatte, und seine Kieselsteine waren so einheitlich und so leuchtend weiß, daß sie gewiß von einem verborgenen, fernen Gestade stammen mußten.
Wir ritten näher, um ihn zu betrachten, und ich fragte Jonas, was ein solcher Pfad hier zu bedeuten hätte.
»Sicher nur eins – daß wir schon auf dem Grund des Hauses Absolut sind.«
Mit einemmal entsann ich mich dieses Plätzchens. »Ja«, beteuerte ich. »Einmal haben Josepha und ich zusammen mit anderen ein Angelfest veranstaltet und sind hierher gekommen. Wir sind bei der knorrigen Eiche herübergegangen …«
Jonas blickte mich an, als wäre ich von Sinnen, was ich selbst für einen Augenblick glaubte. Ich hatte schon so manche Jagd geritten, aber das war kein Jagdroß, sondern ein Schlachtroß, auf dem ich saß. Meine Hände erhoben sich selbsttätig wie Spinnen, um mir die Augen auszureißen –und hätten das vollbracht, wenn der zerlumpte Mann neben mir sie nicht mit der seinen, die aus Stahl gefertigt war, niedergeschlagen hätte. »Du bist nicht die Chatelaine Thecla«, mahnte er. »Du bist Severian, Geselle der Folterer, dem das Unglück widerfahren ist, sie zu lieben. Sieh selbst!« Er hielt die stählerne Hand so, daß ich das schmale, häßliche und entsetzte Gesicht eines Fremden als Spiegelbild in den blankgescheuerten Ballen sehen konnte.
Ich erinnerte mich wieder an unseren Turm mit den runden Mauern aus glattem, dunklem Metall. »Ich bin Severian«, sagte ich.
»Stimmt. Die Chatelaine Thecla ist tot.«
»Jonas …«
»Ja?« »Der Ulan lebt wieder – du hast ihn gesehn. Die Klaue hat ihm neues Leben geschenkt. Ich legte sie ihm auf die Stirn, aber vielleicht sah er sie einfach nur mit seinen toten Augen. Er setzte sich auf. Er atmete und sprach mit mir, Jonas.«
»Er war nicht tot.«
»Du hast ihn gesehn«, wiederholte ich.
»Ich bin viel älter als du. Älter als du glaubst. Wenn es etwas gibt, das ich auf meinen vielen Reisen gelernt habe, so das, daß weder die Toten auferstehn, noch die Jahre sich umkehren. Was gewesen ist, ist vorbei und kommt nicht wieder.«
Theclas Gesicht war noch vor mir, aber ein finsterer Wind umwehte es, bis es flackerte und erlosch. Ich sagte: »Wenn ich sie doch nur benutzt, die Macht der Klaue angerufen hätte, als wir bei jenem Totenmahl saßen …«
»Der Ulan wäre beinahe erstickt, war aber nicht ganz tot. Als ich die Notulen herausgenommen hatte, konnte er wieder atmen und erlangte nach einer Weile das Bewußtsein. Was deine Thecla angeht, so hätte sie keine Macht des Universums wieder zum Leben erwecken können. Sie müssen sie noch während deiner Gefangenschaft in der Zitadelle ausgegraben und in einer Eishöhle aufbewahrt haben. Bevor wir sie zu Gesicht bekamen, war sie wie ein Rebhuhn ausgeweidet und am Spieß gebraten worden.« Er ergriff meinen Arm. »Severian, sei kein Narr!«
In diesem Augenblick hatte ich kein anderes Verlangen als zu vergehen. Wären die Notulen wieder aufgetaucht, ich hätte sie in die Arme geschlossen. Was indes erschien, war etwas Weißes weit unten am Weg, wie ich es auch in Flußnähe gesehen hatte. Ich riß mich von Jonas los und galoppierte darauf zu.
XIV
Das Vorzimmer
Es gibt Wesen – und Artefakte – über die wir uns den Kopf zerbrechen und mit denen wir uns schließlich abfinden, indem wir sagen: »Es war nur ein Spuk, eine schöne, entsetzliche Erscheinung.«
Irgendwo auf den kreisenden Welten, die ich bald erforschen sollte, lebt eine Rasse, die den Menschen ähnlich und unähnlich zugleich ist. Sie sind nicht größer als wir. Ihr Leib gleicht dem unseren, außer daß er vollkommen ist und einer Norm gehorcht, die uns
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