Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Klaue des Schlichters

Die Klaue des Schlichters

Titel: Die Klaue des Schlichters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gene Wolfe
Vom Netzwerk:
während sie wie ein Fries aus Zenotaphien auf uns niederstarrten.
    Ich hatte damit gerechnet, einziger Insasse einer kleinen Zelle zu werden, weil ich wohl unbewußt die Praktiken unserer Oubliette auf diesen fremden Ort übertrug. Man hätte sich nichts von der eigentlichen Ordnung Entfernteres vorstellen können. Der Eingang führte nicht zu einem engen Korridor schmaler Türen, sondern in einen geräumigen, mit Läufern belegten Gang, an den sich ein zweites Tor anschloß. Hastarii mit glühenden Speeren standen davor Wache. Auf ein Wort von einem der Prätorianer schwangen sie die Flügeltüren auf; dahinter lag ein gewaltiger, düsterer, nackter Raum mit einer sehr niedrigen Decke. Mehrere Dutzend Personen, Männer und Frauen und einige Kinder, verteilten sich auf verschiedene Stellen – meist einzeln, aber manche in Paaren oder Gruppen. Familien belegten Alkoven, und hie und da sorgte ein Sichtschutz aus Lumpen für Abgeschiedenheit.
    In dieses Verlies wurden wir gestoßen, das heißt, ich wurde gestoßen und der unglückliche Jonas geworfen. Ich versuchte, seinen Sturz abzufangen und konnte wenigstens verhindern, daß er mit dem Schädel auf dem Boden aufschlug; hierbei hörte ich, wie hinter mir die Türen ins Schloß fielen.
     

 
XV
 
Feuerwerk
     
    Ich wurde von Gesichtern umzingelt. Zwei Frauen nahmen Jonas von mir und trugen ihn mit dem Versprechen, für ihn zu sorgen, fort. Die übrigen begannen, mich mit Fragen zu überhäufen. Wie ich hieße. Was für Kleider ich trüge. Woher ich käme. Ob ich den und den und den kenne. Ob ich je in dieser oder jener Stadt gewesen sei. Ob ich aus dem Haus Absolut sei. Aus Nessus. Vom Ostufer des Gyoll oder vom westlichen. Aus welchem Viertel. Ob der Autarch noch lebe. Ob Vater Inire. Wer Archon in der Stadt sei. Wie es mit dem Krieg stehe. Ob ich vom Hauptmann soundso etwas wisse. Oder vom Kavalleristen soundso. Oder von einem Chiliarchen soundso. Ob ich singen, Gedichte aufsagen oder ein Instrument spielen könne.
    Wie man sich vorstellen kann, habe ich ob dieses Redeschwalls fast keine Frage zu beantworten vermocht. Als der erste Ansturm vorüber war, brachten ein alter, graubärtiger Mann und eine Frau, die fast genauso betagt schien, die übrigen zum Schweigen und trieben sie fort. Ihre Methode, die woanders gewiß nicht funktioniert hätte, bestand daraus, daß sie einem um den anderen auf die Schulter klopften, in den hintersten Winkel des Saales zeigten und forsch sagten: »Viel Zeit. « Allmählich wurden alle still und gingen anscheinend bis zum Rand der Hörweite davon, woraufhin es in dem niedrigen Raum wieder so ruhig wie beim Türöffnen war. »Ich bin Lomer«, erklärte der alte Mann. Er räusperte sich laut. »Das ist Nacarete.«
    Ich sagte ihnen meinen und Jonas’ Namen.
    Die alte Frau hörte wohl die Sorge aus meiner Stimme. »Es geschieht ihm nichts, keine Bange. Die Mädchen behandeln ihn, so gut sie können, denn sie hoffen, sie werden bald mit ihm reden können.« Sie lachte, und etwas in der Art, wie sie den wohlgestalteten Kopf zurückwarf, verriet mir, daß sie einmal schön gewesen war.
    Ich begann meinerseits, Fragen zu stellen, aber der alte Mann unterbrach mich. »Komm mit uns«, sagte er, »in unsere Ecke! Dort können wir uns niedersetzen, und ich kann dir einen Becher Wasser anbieten.«
    Kaum hatte er dieses Wort ausgesprochen, merkte ich, wie durstig ich war. Er führte uns hinter den Lumpenschirm, der der Tür am nächsten war, und schenkte mir aus einem irdenen Krug Wasser in einen feinen Porzellanbecher. Es gab dort neben Kissen ein Tischchen von nur einer Spanne Höhe.
    »Frage für Frage«, begann er. »Das ist die alte Regel. Wir haben dir unseren Namen gesagt, und du hast uns den deinen gesagt, also beginnen wir von neuem. Warum bist du eingesperrt worden?«
    Ich erklärte, daß ich das nicht wisse, es sei denn, das bloße Betreten des Grundstückes sei der Grund.
    Lomer nickte. Seine Haut war bleich wie bei allen, die nie an die Sonne kommen; mit seinem struppigen Bart und den schiefen Zähnen hätte er in jeder anderen Umgebung abstoßend gewirkt, aber hierher paßte er genauso wie die halb ausgetretenen Steinplatten des Fußbodens. »Ich bin hier aufgrund der Niedertracht der Chatelaine Leocadia. Ich war Marjordomus ihrer Rivalin, der Chatelaine Nympha, und als sie mich ins Haus Absolut mitnahm, um den Stand ihrer Güter zu überprüfen, während sie den Riten des Philomaten Phocas beiwohnte, lockte mich die Chatelaine

Weitere Kostenlose Bücher