Die Klaue des Schlichters
sind, was in unserer Oubliette nur selten der Fall ist, sind unsere Klienten zum großen Teil voller Hoffnung, während diejenigen des Hauses Absolut verzweifeln.
Nach mindestens zehn Wachen gingen die glimmenden Lampen an der Decke allmählich aus, und ich erklärte Lomer und Nicarete, daß ich nicht länger wach bleiben könnte. Sie führten mich an eine Stelle, weit von der Tür entfernt, wo es sehr finster war, und eröffneten mir, daß diese mir gehöre, bis einer der Gefangenen stürbe und ich an einen besseren Platz vorrücken könne.
Als sie wieder gingen, hörte ich Nicarete fragen: »Ob sie heut’ nacht kommen?« Lomer gab eine Antwort, die ich jedoch nicht verstand, und zum Fragen war ich zu müde. Mit den Füßen spürte ich eine dünne Schlafdecke auf dem Boden; ich setzte mich nieder und wollte mich gerade der Länge nach ausstrecken, als ich mit der Hand gegen einen lebendigen Körper stieß.
Ich vernahm Jonas’ Stimme. »Brauchst nicht zu erschrecken. Bin nur ich.«
»Warum hast du nichts gesagt? Ich sah dich umhergehen, aber ich konnte von den zwei alten Leuten nicht weg. Wieso bist du nicht hergekommen?«
»Ich sagte nichts, weil ich überlegte. Ich kam nicht rüber, denn ich konnte zuerst nicht weg von den Frauen, die sich um mich kümmerten. Dann konnten sie nicht von mir weg. Severian, ich muß von hier fliehen.«
»Das will wohl jeder«, erwiderte ich. »Ich bestimmt.«
»Aber ich muß!« Seine schmale, harte Hand – seine linke, echte – ergriff die meine. »Wenn nicht, bring’ ich mich um oder verlier’ den Verstand. Ich bin dein Freund, nicht wahr?« Er sprach nun im allerleisesten Flüsterton. »Kann der Talisman, den du bei dir hast … das blaue Juwel … uns befreien? Ich weiß, daß die Prätorianer es nicht gefunden haben; ich habe beobachtet, wie du durchsucht worden bist.«
»Ich will’s nicht rausnehmen«, versetzte ich. »Es leuchtet so im Finstern.«
»Ich halte als Sichtschutz eine der Matten aufgestellt hoch.«
Ich wartete, bis er die Decke in der richtigen Lage hatte, und zog dann die Klaue heraus. Ihr Schein war so schwach, ich hätte sie mit der Hand abschirmen können.
»Ist sie am Erlöschen?« wollte Jonas wissen.
»Nein, so ist sie oft. Aber wenn sie aktiv wird – als sie das Wasser in unserer Karaffe verwandelt oder die Menschenaffen in Angst und Bange versetzt hat – leuchtet sie hell. Wenn sie unsere Flucht überhaupt ermöglichen kann, so jedenfalls nicht jetzt.«
»Wir müssen damit zur Tür. Vielleicht springt das Schloß auf.« Seine Stimme bebte.
»Später, wenn alle schlafen. Ich befreie sie, wenn wir selbst frei kommen; aber wenn die Tür nicht aufgeht – und das wird sie wohl nicht – soll keiner wissen, daß ich die Klaue habe. Und nun sag mir, warum du sofort fliehen mußt!«.
»Während du mit den alten Leuten sprachst, wurde ich von einer ganzen Familie ausgefragt«, begann Jonas. »Es waren mehrere alte Frauen, ein Mann um die Vierzig, ein jüngerer um die Dreißig, drei weitere Frauen und eine Kinderschar. Sie hatten mich in ihre kleine Mauernische getragen, wohin die übrigen Gefangenen nur kommen durften, wenn sie eingeladen waren, was sie nicht wurden. Ich rechnete damit, daß sie etwas über Freunde von draußen, Politik oder die Kämpfe in den Bergen erfahren wollten. Statt dessen wollten sie offenbar nur ihren Spaß an mir haben. Sie fragten mich über den Fluß aus, wo ich überall gewesen sei, wie viele Leute sich so wie ich kleideten – und übers Essen draußen. Sie stellten viele Fragen übers Essen, darunter recht alberne. Hätte ich schon einmal beim Schlachten zugesehn. Flehten die Tiere tatsächlich um ihr Leben. Und sei es wahr, daß diejenigen, die Zucker machten, vergiftete Schwerter trügen und kämpften, um ihn zu verteidigen …
Sie haben noch nie Bienen gesehen und offenbar geglaubt, sie wären groß wie Hasen. Nach einer Weile begann ich selbst, Fragen zu stellen und fand heraus, daß keiner von ihnen, nicht einmal die ältesten Frauen, je frei gewesen waren. Wie es scheint, werden Männer und Frauen zusammen in diesen Raum gesteckt, so daß sie naturgemäß Kinder bekommen. Einige davon werden zwar entfernt, aber die meisten bleiben ihr ganzes Leben hier. Sie haben keinen Besitz und keinerlei Hoffnung auf Freilassung. Sie wissen zwar nicht, was Freiheit bedeutet, und obschon mir der ältere Mann und ein Mädchen allen Ernstes versichert haben, sie würden gern hinauskommen, glaube ich nicht, daß sie
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