Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Klaue des Schlichters

Die Klaue des Schlichters

Titel: Die Klaue des Schlichters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gene Wolfe
Vom Netzwerk:
draußen bleiben wollten. Die alten Frauen sind schon Gefangene in der siebten Generation, wie sie gesagt haben – allerdings hat eine angedeutet, daß auch ihre Mutter schon Gefangene in der siebten Generation gewesen sei.
    Sie sind in mancherlei Hinsicht bemerkenswerte Leute. Im Äußeren hat sie dieser Ort, an dem sie ihr ganzes Leben verbracht haben, geprägt. Darunter jedoch gibt es …« – Jonas hielt inne, und ein drückendes Schweigen kam über uns – »Familienüberlieferungen, könnte man es wohl nennen. Traditionen von der Außenwelt, die von Generation zu Generation von den ursprünglichen Gefangenen, von denen sie abstammen, zu ihnen gelangt sind. Einige der Wörter verstehen sie zwar nicht mehr, dennoch halten sie an den Traditionen, den Geschichten fest, denn das ist alles, was sie noch haben: die Geschichten und ihre Namen.«
    Er verstummte. Ich hatte die schwach funkelnde Klaue wieder in den Stiefelschaft gesteckt, so daß uns völlige Finsternis umgab. Jonas keuchte wie ein Blasebalg in einer Schmiede.
    »Ich fragte sie nach dem Namen des ersten Gefangenen, des frühesten, von dem ab sie die Generationen zählten. Er hieß Kimleesoong … Hast du diesen Namen schon einmal gehört?«
    Ich verneinte.
    »Oder einen ähnlichen? Stell ihn dir als drei Wörter vor.«
    »Nein, nichts dergleichen«, versetzte ich. »Die meisten Leute, die ich kenne, haben einen einfachen Namen wie du, wenn nicht ein Titel oder irgendein Spitznamen angehängt ist, weil es zu viele Bolcans oder Altos oder was auch immer gibt.«
    »Du hast mir einmal gesagt, mein Name sei ungewöhnlich. Kim Lee Soong wäre ein durchaus üblicher Name gewesen, als ich – ein Knabe war. Ein üblicher Name in Städten, die nun im Meer versunken liegen. Hast du schon einmal von meinem Schiff gehört, Severian? Es war die Glückliche Wolke.«
    »Ein Spielhöllenschiff? Nein, aber …«
    Mein Blick fiel auf einen fahlen Lichtstrahl, der so schwach war, daß man ihn selbst in dieser Finsternis kaum sehen konnte. Mit einemmal hallte der breite, niedrige, winklige Raum von raunenden Stimmen wider. Ich hörte Jonas auf die Beine springen. Ich folgte seinem Beispiel, doch kaum hatte ich mich aufgerichtet, blendete mich ein blauer Lichtblitz. Noch nie hatte ich einen so heftigen Schmerz gespürt; es war, als würde mir das Gesicht abgerissen. Ich wäre gestürzt, wenn nicht die Wand gewesen wäre.
    Irgendwo ein Stück weiter weg blitzte das blaue Licht abermals auf, und eine Frau schrie aus Leibeskräften.
    Jonas fluchte – zumindest verriet mir sein Tonfall, daß er fluchte, denn die Wörter, die er ausstieß, stammten aus fremden Sprachen. Ich hörte seine Stiefel auf dem Boden. Wieder flammte das Licht auf, und ich erkannte es als das blitzähnliche Leuchten wieder, das ich an jenem Tag gesehen hatte, als Meister Gurloes, Roche und ich Thecla dem Revolutionär unterzogen. Gewiß hatte wie ich auch Jonas aufgeschrien, aber es herrschte inzwischen ein solcher Tumult, daß ich seine Stimme nicht unterscheiden konnte.
    Das fahle Licht wurde stärker. Halb gelähmt vor Schmerz und Furcht, wie ich sie noch nie erlebt hatte, sah ich zu, wie es sich zu einem gewaltigen Gesicht vereinigte, das mich aus Glotzaugen anstarrte, um rasch wieder zu erlöschen.
    All dies war viel grauenvoller, als ich es in Worte fassen könnte, und würde ich auch eine Ewigkeit darum ringen. Es war die Angst sowohl vor Blindheit als auch vor Schmerz, aber wir waren sowieso schon alle blind. Es gab kein Licht, und wir konnten keines machen. Nicht einer von uns hatte eine Kerze oder ein Stück Zunder. Schreien, Weinen und Beten erfüllte diesen höhlenartigen Raum. Daneben vernahm ich das klare Lachen einer jungen Frau; dann war es wieder verschwunden.
     

 
XVI
 
Jonas
     
    Es verlangte mich nach Licht, wie es einen Hungernden nach Fleisch verlangt, und ich riskierte schließlich die Klaue. Vielleicht sollte ich sagen, daß sie mich riskierte; offenbar hatte ich keine Kontrolle über die Hand, die in den Stiefelschaft glitt und nach ihr griff.
    Sofort legte sich der Schmerz, und ein azurblauer Lichtschein breitete sich aus. Das Geschluchze und Geschrei wurde wieder doppelt so laut, denn als die armen Insassen das Leuchten sahen, fürchteten sie, daß ihnen ein neues Grauen drohe. Ich steckte die Klaue abermals in meinen Stiefel und tastete in der Dunkelheit nach Jonas.
    Er war nicht bewußtlos, wie ich vermutet hatte, sondern lag, sich windend und krümmend, etwa zwanzig

Weitere Kostenlose Bücher