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Die Klaue des Schlichters

Die Klaue des Schlichters

Titel: Die Klaue des Schlichters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gene Wolfe
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Verschließen gekommen waren, und diese alles zerschlagen hätten, um an die Güter seines Haushalts zu gelangen. Auf einem kaputten Tisch bemerkte ich die zerronnenen Reste einer Kerze, die bis aufs Holz abgebrannt war. Die Leute hinter mir drückten mich weiter hinein; ich jedoch sperrte mich, wie ich zu meiner Überraschung entdeckte, und drängte zurück.
    Hinten im Haus wurde es laut – ein Durcheinander rascher Schritte – ein Ruf – dann ein schriller, unmenschlicher Schrei.
    »Sie haben ihn!« verkündete jemand hinter mir lauthals, und ich hörte, wie draußen die Kunde weitergegeben wurde.
    Ein beleibter Mann, wahrscheinlich ein Kleinbauer, kam aus dem Dunkeln gerannt, eine Fackel in der einen, einen Knüttel in der anderen Hand. »Aus dem Weg! Zurück, alles zurück! Sie bringen ihn raus!«
    Ich weiß nicht, was ich erwartet habe … Vielleicht eine dreckige Gestalt mit verfilzten Haaren. Was jedoch zum Vorschein kam, war ein Gespenst. Barnoch war groß gewesen; das war er noch, allerdings hielt er sich gebückt und war spindeldürr, mit einer Haut, die offenbar leuchtete wie fauliges Holz, so bleich war sie. Er war haarlos, glatzköpfig und bartlos; wie ich an diesem Nachmittag von seinen Wächtern erfuhr, hatte er es sich angewöhnt, sich die Haare auszuzupfen. Am schlimmsten waren seine hervorquellenden Augen, die scheinbar erblindet und schwarz wie der finstere Schlund seines Mundes waren. Ich wandte mich ab, als er zu sprechen begann, wußte jedoch, daß die Stimme ihm gehörte. »Ich werde befreit«, stieß er aus. »Vodalus! Vodalus wird kommen!«
    Wie wünschte ich mir damals, nie selbst in einem Gefängnis gesessen zu haben, denn seine Stimme gemahnte mich an jene dumpfen Tage, die ich in der Oubliette unter unserem Matachin-Turm ausgeharrt hatte. Auch ich hatte von einer Rettung durch Vodalus geträumt, von einer Revolution, die den Tiergestank und die Verderbtheit des gegenwärtigen Zeitalters hinwegfegte und die glänzende Hochkultur wiederherstellte, die einst auf Urth geherrscht.
    Indes wurde ich nicht durch Vodalus und seine geheimnisvollen Heerscharen gerettet, sondern durch die Fürsprache von Meister Palaemon – und gewiß auch von Drotte, Roche und einigen anderen Freunden – der die Brüder davon überzeugt hatte, daß es zu gefährlich wäre, mich zu töten, und zu schändlich, mich vor einen Richter zu bringen.
    Barnoch würde überhaupt nicht gerettet werden. Ich, der ich sein Waffenbruder sein sollte, würde ihn brandmarken, ihn rädern und schließlich enthaupten. Ich versuchte mir einzureden, er habe nur für Geld gehandelt; aber im selben Moment traf etwas Metallenes – bestimmt die Stahlspitze einer Lanze – auf Stein, so daß ich scheinbar das Klirren der Münze wieder hörte, die Vodalus mir geschenkt hatte, das Klirren, als ich sie in den Spalt unter der Bodenplatte des verfallenen Mausoleums steckte.
    Manchmal, wenn unsere ganze Aufmerksamkeit auf Erinnerungen gerichtet ist, unterscheiden unsere Augen, von uns selbst ungelenkt, aus einer Masse von Details eine Einzelheit und bieten sie mit einer durch Konzentration unerreichbaren Klarheit dar. So geschah es auch mit mir. Inmitten des Gewühls wogender Gesichter hinter der Tür entdeckte ich ein aufschauendes, sonnenbeschienenes: Agias Gesicht.
     

 
III
 
Das Zelt des Schaustellers
     
    Der Anblick erstarrte, als stünden wir beide und alle ringsum in einem Gemälde. Agias aufschauendes Gesicht – meine großen Augen; so verharrten wir inmitten der bäuerlichen Schar mit bunten Kleidern und Bündeln. Dann rührte ich mich, und sie war weg. Ich wäre zu ihr gelaufen, wenn ich gekonnt hätte; aber ich mußte mich durch die Schaulustigen zwängen, und es dauerte vielleicht hundert Herzschläge, bis ich an die Stelle gelangte, wo sie gestanden hatte.
    Sie war inzwischen spurlos verschwunden in diesem Menschenauflauf, der sich immerfort wandelte und verteilte wie das Wasser unter dem Bug eines Schiffes. Barnoch, der im grellen Sonnenlicht aufschrie, wurde herausgeführt. Ich klopfte einem Bergmann auf die Schulter und rief ihm eine Frage zu, aber er hatte nicht auf die junge Frau neben sich geachtet und keine Ahnung, wohin sie gegangen sein mochte. Ich folgte der Menge, die dem Gefangenen folgte, bis ich mich vergewissert hatte, daß sie nicht darunter war. Weil mir nichts Besseres einfiel, begann ich dann auf dem Markt zu suchen, spähte in die Zelte und Buden, befragte Bäuerinnen, die ihr duftendes Ingwerbrot

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