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Die Klaue des Schlichters

Die Klaue des Schlichters

Titel: Die Klaue des Schlichters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gene Wolfe
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richtig erklären kann … viel komplizierter als dieses dürftige Zimmer. Ich kann nur sagen, der Eingang ist mit Metalldrähten belegt, und diese wissen, wenn andere Metalle, ihre Brüder und Schwestern, in ihren Kreis treten.«
    »Habt Ihr all das gemacht?«
    »O nein. All diese Dinge …« Er machte eine Pause. »Und hundert mehr davon bilden das, was wir Zweites Haus nennen. Sie sind das Werk von Vater Inire, der vom ersten Autarchen dazu berufen worden ist, innerhalb der Mauern des Hauses Absolut einen Geheimpalast zu schaffen. Du oder ich, mein Sohn, hätten gewiß bloß eine Flucht verborgener Zimmer gebaut. Er richtete es so ein, daß das geheime Haus und das öffentlich zugängliche räumlich nebeneinander existierten.«
    »Aber du bist nicht er«, sagte ich. »Denn nun weiß ich, wer du bist! Erkennst du mich wieder?« Ich zog meine Maske ab, damit er mein Gesicht sehen könnte.
    Lächelnd antwortete er: »Du bist nur einmal gekommen. Die Khaibit gefiel dir also nicht?«
    »Sie gefiel mir weniger als die Frau, für die sie sich ausgab – oder besser, ich liebte die andere mehr. Heut’ nacht habe ich einen Freund verloren, dennoch treffe ich lauter alte Bekannte. Darf ich fragen, was dich von deinem Azurnen Haus hierherführt? Bist du zum Thiasus bestellt? Ich bin vorhin einer deiner Damen begegnet.«
    Er nickte geistesabwesend. Ein merkwürdiger schiefer Spiegel an einer Seite des seltsamen, flachen Raumes warf sein Profil zurück, das fein wie eine Kamee geschnitten war, woraus ich schloß, daß er ein Zwitter sein mußte. Mitleid überkam mich, gepaart mit einem Gefühl der Hilflosigkeit, als ich mir vorstellte, wie er Nacht für Nacht Männern die Tür zu seinem Etablissement im Algedonischen Viertel öffnen mußte. »Ja«, sagte er. »Ich bleibe für die Dauer des Festes und gehe wieder.«
    Meine Gedanken drehten sich um das Bild, das mir Rudesind draußen im Korridor gezeigt hatte, und ich versetzte: »Dann kannst du mir sagen, wo der Garten ist.«
    Ich spürte sofort, daß er sich, wohl zum ersten Mal seit Jahren, überrumpelt fühlte. Ein gequälter Zug trat in seine Augen, und seine Linke bewegte sich (wenn auch nur ein Stückchen weit) zur Phiole an seinem Hals. »Du hast also davon erfahren …«, erwiderte er. »Selbst wenn ich den Weg wüßte, warum sollte ich ihn dir vorenthalten? Viele werden zu fliehen suchen, wenn die pelagische Argosie Land sieht.«
     

 
XXI
 
Hydromantie
     
    Mehrere Sekunden waren verstrichen, ehe ich ganz verstand, was der Androgyne gesagt hatte. Dann stieg aus meiner Erinnerung der süßlichwiderliche Duft von Theclas gebratenem Fleisch in meine Nase, und mir war, als spürte ich die Unrast des Laubes um mich herum. Unter dem Druck der Umstände die Nutzlosigkeit aller Vorsicht in einem solchen mit Täuschungen gespickten Zimmer mißachtend, blickte ich mich um, um mich zu vergewissern, daß uns niemand belauschte, stellte jedoch fest, daß ich unwillkürlich (denn eigentlich wollte ich ihn aushorchen, ehe ich meine Verbindung zu Vodalus offenbarte) den messerförmigen Stahl aus dem innersten Fach meiner Gürteltasche gezogen hatte.
    Der Androgyne lächelte. »Ich hab’ mir gedacht, daß du derjenige wärst. Seit Tagen habe ich dich erwartet und den alten Mann draußen und viele andere angewiesen, vielversprechende Fremde zu mir zu bringen.«
    »Ich wurde eingesperrt ins Vorzimmer«, erklärte ich. »So verlor ich Zeit.«
    »Aber du bist entkommen, wie ich sehe. Du wärst wohl kaum freigelassen worden, ehe meine Männer es durchsucht hätten. Um so besser – es bleibt nicht mehr viel Zeit … die drei Tage des Thiasus, dann muß ich aufbrechen. Komm, und ich zeig’ dir den Weg zum Garten, obschon ich mir keineswegs sicher bin, daß man dir auch Zutritt gewährt!«
    Er öffnete die Tür, durch die er gekommen war, und ich bemerkte nun, daß sie nicht ganz rechteckig war. Das Zimmer, das sich dahinter anschloß, war kaum größer als jenes, das wir verlassen hatten, aber seine Winkel wirkten normal, und es wies eine prächtige Ausstattung auf.
    »Wenigstens bist du an die richtige Stelle des Geheimen Hauses gekommen«, sagte der Androgyne. »Sonst hätten wir einen langen Gang antreten müssen. Und nun entschuldige mich, bis ich die Nachricht, die du überbracht hast, gelesen habe.«
    Er schritt zu einem Tisch mit einer gläsernen Platte, wie ich zunächst vermutet hatte, und legte den Stahl darunter auf ein Brettchen. Sogleich ging ein Licht an und leuchtete

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