Die Klaue des Schlichters
vom Glas hinunter, obwohl darüber keine Lampe brannte. Der Stahl wuchs bis zu Schwertgröße, und seine Riefen anstelle bloßer Furchen zum Feuerschlagen mit einem Flint wurden, wie ich sah, fließende Schriftzeilen.
»Tritt zurück!« forderte mich der Androgyne auf. »Wenn du es noch nicht gelesen hast, darfst du es auch jetzt nicht lesen.«
Ich tat, was er verlangte, und beobachtete, wie er sich eine Weile über den kleinen Riegel beugte, den ich von Vodalus’ Lichtung mitgebracht hatte. Schließlich sagte er: »Es hilft also nichts … wir müssen auf zwei Seiten kämpfen. Aber damit hast du nichts zu schaffen. Siehst du diesen Kabinettschrank mit der Eklipsenschnitzerei in der Tür? Öffne ihn und hebe das Buch, das du dort findest, heraus. Hier, du kannst es auf diesen Ständer stellen.«
Obschon ich befürchtete, das könnte eine Falle sein, öffnete ich den Kabinettschrank, den er bezeichnet hatte. Er barg ein einziges monströses Buch – fast so hoch wie ich und gut zwei Ellen breit – das mit dem Deckel aus gesprenkeltem, blaugrünem Leder mir zugewandt stand wie ein Leichnam, hätte ich den Deckel eines aufgerichteten Sarges geöffnet. Nachdem ich mein Schwert in die Scheide gesteckt hatte, ergriff ich diesen gewaltigen Band mit beiden Händen und stellte ihn in den Ständer. Der Androgyne fragte, ob ich es schon einmal gesehen hätte, was ich verneinte.
»Du hast ein erschrockenes Gesicht gemacht, beim Tragen versucht – so ist es mir vorgekommen – das Gesicht abzuwenden.« Beim Sprechen klappte er den Deckel auf. Die somit freigelegte erste Seite trug rote Schriftzeichen, die mir fremd waren. »Dies ist eine Warnung für jene, die den Weg suchen«, sagte er. »Soll ich sie dir vorlesen?«
»Es war mir, als hätt’ ich auf dem Leder einen toten Mann gesehen, und der war ich«, platzte ich heraus.
Er schloß den Deckel wieder und strich mit der Hand darüber. »Diese schillernden Farben sind nur das Werk früher Künstler … Die Linien und Zeichnungen darunter nur die Schrammen der geplagten Tierhäute, die Narben von Haken und Peitschen. Aber wenn du dich fürchtest, brauchst du nicht zu gehen.«
»Öffne es!« sagte ich. »Zeig mir die Karte!«
»Es gibt keine Karte. Das ist das Ding selbst«, engegnete er und klappte sowohl den Deckel als auch die erste Seite um.
Ich wurde geblendet wie von einem Blitzstrahl in finsterer Nacht. Die inneren Seiten schienen aus reinem Silber, getrieben und poliert, das jeden Funken Helligkeit im Zimmer auffing und hundertfach zurückwarf. »Das sind Spiegel«, sagte ich und erkannte, noch während ich sprach, daß es keine Spiegel, sondern jene Dinge waren, die vor weniger als einer Wache Jonas zu den Sternen hatten heimkehren lassen – und wofür wir kein anderes Wort als Spiegel haben. »Aber woher haben sie Kraft, wenn sie einander nicht gegenüberliegen?«
Der Androgyne erwiderte: »Bedenke, wie lange sie einander gegenübergelegen haben, solange das Buch geschlossen gewesen ist. Nun wird das Feld die kurzzeitige Spannung, mit der wir es belasten, aushalten. Geh, wenn du dich getraust!«
Ich getraute mich nicht. Während er sprach, bildete sich im Lichtschein über den Seiten etwas aus. Es war weder eine Frau noch ein Schmetterling, sondern hatte von beidem etwas an sich; und genau wie wir, wenn wir einen gemalten Berg im Hintergrund eines Bildes sehen, wissen, daß er in Wirklichkeit so groß wie eine Insel ist, wußte auch ich, daß ich es nur aus großer Ferne sah. Mir war, als trügen es seine Schwingen durch die Protonenstürme des Alls und wäre die ganze Urth nur ein von seinem Flügelschlag aufgewirbeltes Stäubchen. Wie ich es gesehen hatte, so sah es auch mich, fast so wie der Androgyne vor wenigen Augenblicken die Schlingen und Schleifen der Schrift auf dem Stuhl unter seinem Glas gesehen hatte. Innehaltend wandte er sich mir zu und öffnete seine Fittiche, auf daß ich sie betrachte. Sie waren mit Augen gezeichnet.
Der Androgyne schlug das Buch mit einem Knall zu, so als wäre eine Tür ins Schloß gefallen. »Was hast du gesehen?« wollte er wissen.
Mein einziger Gedanke war, daß ich nicht länger in die Seiten blicken mußte, und ich sagte: »Danke, Sieur. Wer immer Ihr sein mögt, ich will von heute an Euer Diener sein.«
Er nickte. »Vielleicht werd’ ich dich eines Tages daran gemahnen. Was du gesehen hast, danach will ich jedoch nicht noch einmal fragen. Hier, wisch dir über die Stirn. Der Anblick hat deine Stirn
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