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Die Klaue des Schlichters

Die Klaue des Schlichters

Titel: Die Klaue des Schlichters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gene Wolfe
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gereinigt. Ein komisches Gefühl, sage ich dir, dabei das eigene Gesichtchen zu waschen. Ich wünsche mir dauernd, jemand würde es mir jetzt waschen und den Dreck der Jahre mit seinem Schwamm abtragen. Aber dahin bringe ich dich nicht – es ist das Grüne Zimmer, das du sehen willst, nicht wahr?«
    »Ja«, antwortete ich eifrig.
    »Nun, ein Gemälde davon haben wir hier vorne. Schau! Wenn du es siehst, wirst du’s erkennen.«
    Er zeigte auf eine breite Grobleinwand. Das Bild stellte gar kein Zimmer dar, sondern einen kleinen Park, einen Lustgarten, von hohen Hecken umgeben, mit einem Lilienteich und einigen Weiden, durch die der Wind fuhr. Ein Mann in einem närrischen Ilanero-Kostüm spielte Gitarre, einzig für das eigene Ohr, wie es schien. Hinter ihm zogen finstere Wolken über den düsteren Himmel.
    »Nachher kannst du zur Bibliothek gehen und Ultans Karte studieren«, sagte der Greis.
    Das Gemälde war eines jener irritierenden Bilder, die in reine Farbtupfer zerfließen, wenn man es nicht als Ganzes betrachten kann. Ich trat einen Schritt zurück, um eine bessere Sicht zu haben, dann noch einen …
    Beim dritten Schritt erkannte ich, daß ich mit der Mauer hinter mir in Berührung hätte kommen müssen, was nicht der Fall war. Statt dessen stand ich inmitten des Bildes, das die gegenüberliegende Wand bekleidet hatte: ein düsteres Zimmer mit altertümlichen Ledersesseln und Ebenholztischen. Ich wandte den Kopf, um es anzusehen, aber plötzlich war der Korridor, in dem ich mich mit Rudesind befunden hatte, verschwunden, und eine Wand mit einer alten, verblichenen Papiertapete stand an seiner Stelle.
    Unwillkürlich hatte ich Terminus Est gezogen, aber es war kein Feind zum Drauflosschlagen da. Als ich meine Schritte gerade zur einzigen Tür des Zimmers kehrte, ging sie auf, und herein kam eine Gestalt in gelber Robe. Das kurze, weiße Haar war aus der runden Stirn zurückgekämmt, und das Gesicht hätte fast für eine dralle Frau um die Vierzig getaugt; vom Hals baumelte eine phallusförmige Phiole, an die ich mich erinnerte, an einem dünnen Kettchen.
    »Aha«, sagte er. »Wen haben wir denn da? Willkommen, Gevatter Tod.«
    Mit aller Gelassenheit, die ich aufbieten konnte, antwortete ich: »Ich bin der Geselle Severian – von der Zunft der Folterer, wie Ihr seht. Mein Eindringen war völlig unfreiwillig, und ich wäre Euch offengestanden sehr dankbar, wenn Ihr mir erklären könntet, wie es denn dazu kam. Als ich draußen im Korridor stand, erschien mir dieses Zimmer lediglich als ein Gemälde. Aber als ich ein, zwei Schritte zurückging, um das an der gegenüberliegenden Wand zu betrachten, fand ich mich hier drin wieder. Durch welche Kunst wurde das bewerkstelligt?«
    »Keine Kunst«, versetzte der Mann in der gelben Robe. »Verborgene Türen sind schwerlich eine originelle Erfindung, und der Erbauer dieses Zimmers hat lediglich Mittel angewandt, eine offene Tür zu tarnen. Der Raum ist nicht tief, wie du siehst; nicht einmal so tief, wie du selbst jetzt glaubst, es sei denn, du hast bereits bemerkt, daß die Winkel von Fußboden und Decke zusammenlaufen, so daß die hintere Wand niedriger ist als jene, durch die du gekommen bist.«
    »Ich sehe«, sagte ich, und ich sah es tatsächlich. Während er sprach, war dieser schiefe Raum, den mein ausschließlich an übliche gewöhnter Verstand mir als normales Zimmer vorgegaukelt hatte, zu dem geworden, was er war: ein Raum mit schräger, trapezförmiger Decke und trapezförmigem Boden. Selbst die Sessel gegenüber der Wand hatten so wenig Tiefe, daß man kaum darin hätte sitzen können; die Tische waren nicht breiter als Bretter.
    »Solche zusammenlaufenden Linien verleiten das Auge, es als Bild zu sehen«, führte der Mann in der gelben Robe weiter aus. »Begegnet es ihnen in Wirklichkeit – mit wenig tatsächlicher Tiefe und der zusätzlichen künstlichen Atmosphäre von monochromatischem Licht, gewinnt es den Eindruck, wiederum nur ein Bild vor sich zu haben, insbesondere wenn es durch eine lange Reihe echter Gemälde vorbelastet ist. Dein Eindringen mit dieser großen Waffe bewirkte das Emporsteigen einer echten Wand hinter dir, damit du eingeschlossen wärest, bis man dich überprüft hätte. Es erübrigt sich wohl zu sagen, daß die andere Seite mit dem Bild, das du zu sehen geglaubt hast, bemalt ist.«
    Ich war verblüffter denn je. »Aber wie wußte denn das Zimmer, daß ich ein Schwert mitführte?«
    »Das ist so kompliziert, daß ich es nicht

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