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Die Klaue des Schlichters

Die Klaue des Schlichters

Titel: Die Klaue des Schlichters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gene Wolfe
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gezeichnet.«
    Er reichte mir dabei ein sauberes Tuch, womit ich mir den Kopf abtupfte, wie er mich geheißen hatte, denn ich spürte die Nässe über mein Gesicht perlen. Als ich mir das Tuch ansah, war es rot vor Blut.
    Als hätte er meine Gedanken gelesen, erklärte er: »Du bist nicht verletzt. Der medizinische Begriff dafür lautet Haematidrosis, denke ich. Unter dem Druck einer starken Gefühlswallung platzen in den betroffenen Hautpartien … zuweilen an der ganzen Haut … winzige Äderchen bei gleichzeitigem Schweißausbruch. Das wird einen häßlichen Bluterguß geben, fürchte ich.«
    »Warum habt Ihr das getan?« fragte ich. »Ich dachte, Ihr wolltet mir die Karte zeigen. Ich will lediglich das Grüne
    Zimmer finden, wie Rudesind da draußen ihn genannt hat, den Ort, wo die Schauspieler untergebracht sind. Hat Vodalus’ Botschaft besagt, daß der Überbringer zu töten sei?« Ich tastete bei diesen Worten nach meinem Schwert, aber ich war zu schwach, die Klinge zu ziehen.
    Der Androgyne lachte. Es war zunächst ein freudiges Lachen, irgendwie zwischen dem einer Frau und dem eines Knaben schwankend, aber dann wurde daraus ein Kichern wie das eines Trunkenen. In mir regten sich Theclas Erinnerungen; fast wären sie erwacht. »War das alles, was du wolltest?« fragte er, als er sich wieder gefaßt hatte. »Du hast mich um Feuer für deine Kerze gebeten, und ich hab’ dir die Sonne geben wollen, und nun bist du verbrannt. Es war mein Fehler … Ich wollte vielleicht meine Zeit aufschieben; doch selbst dann hätt’ ich dich nicht so weit reisen lassen, hätt’ ich in der Botschaft nicht gelesen, daß du die Klaue habest. Und nun tut’s mir aufrichtig leid, aber ich kann mir nicht helfen – ich muß einfach lachen. Wohin wirst du gehen, wenn du das Grüne Zimmer gefunden hast, Severian?«
    »Wohin Ihr mich schickt. Wohlgemerkt habe ich Vodalus meinen Dienst geschworen.« (Eigentlich fürchtete ich ihn und hatte Angst, er könnte Vodalus davon in Kenntnis setzen, falls ich mich als ungehorsam erwiese.)
    »Aber wenn ich keine Befehle für dich habe? Hast du dich der Klaue schon entledigt?«
    »Konnte es noch nicht«, sagte ich.
    Es herrschte Schweigen. Er blieb stumm.
    »Ich gehe nach Thrax«, fuhr ich fort. »Ich habe einen Brief für den Archon dort; er soll Arbeit für mich haben. Um der Ehre meiner Zunft willen möchte ich diesem Ruf nachkommen.«
    »Das ist gut. Wie groß ist in Wahrheit deine Liebe zu Vodalus?«
    Wieder spürte ich den Axtgriff in meiner Hand. Bei euch übrigen, höre ich, stirbt die Erinnerung; mein Gedächtnis verblaßt kaum. Der Nebel, der die Nekropolis in jener Nacht eingehüllt hatte, wehte mir wieder ins Gesicht, und alles, was ich gefühlt hatte, als ich von Vodalus die Münze erhielt und er davonging, bis ich ihn nicht mehr sah, lebte wieder vor mir auf. »Ich habe ihn einmal gerettet«, antwortete ich.
    Der Androgyne nickte. »Das also wirst du tun. Du gehst nach Thrax, wie du beabsichtigt hast, und erzählst jedem –sogar dir selbst –, daß du das Amt bekleiden wirst, das dort auf dich wartet. Die Klaue ist gefährlich. Bist du dir dessen bewußt?«
    »Ja. Vodalus sagte mir, wenn bekannt würde, daß wir sie besitzen, könnte uns das die Unterstützung der Bevölkerung kosten.«
    Wieder blieb der Androgyne eine Weile stumm. Dann sagte er: »Die
    Pelerinen sind im Norden. Wenn du die Gelegenheit bekommst, mußt du ihnen die Klaue wiedergeben.«
    »Danach war ich von Anfang an bestrebt.«
    »Gut. Noch etwas bleibt dir zu tun. Der Autarch ist hier, aber wenn du Thrax erreichst, wird er längst mit seiner Armee im Norden sein. Kommt er in die Nähe von Thrax, wirst du zu ihm gehen können. Du wirst beizeiten den Weg finden, wie du ihn ums Leben bringen mußt.«
    Sein Tonfall stellte ihn ebenso bloß wie Theclas Gedanken. Ich wollte auf die Knie fallen, aber er klatschte in die Hände, und ein gebücktes Männchen huschte lautlos ins Zimmer. Es trug eine Kutte wie ein Klostermönch. Der Autarch sagte etwas zu ihm, was ich, so verstört wie ich war, nicht verstand.
     
    Auf der ganzen Welt kann es kaum etwas Schöneres geben als den Anblick der aufgehenden Sonne, durch die tausend funkelnden Wasser des Vatis-Brunnens betrachtet. Ich bin kein Ästhet, aber der erste Anblick der tanzenden Fontänen (über die ich schon so viel gehört hatte) hat mich wohl wieder aufgerichtet. Ich erinnere mich noch immer gern daran, wie ich ihn bestaunt habe, als der Diener im Mönchsgewand mir

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