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Die Klaue des Schlichters

Die Klaue des Schlichters

Titel: Die Klaue des Schlichters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gene Wolfe
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brannte auf ihrer Wange wie Feuer.
    Eine Weile saßen wir, ohne zu sprechen. Die Nachtigallen waren nun verstummt, aber in allen Bäumen hatten die Hänflinge ihr Lied angestimmt, und ein Papagei, wie ein livrierter Bote in Rot und Grün gewandet, flatterte durchs Geäst.
    Schließlich sagte Dorcas: »Wasser ist etwas Furchterregendes! Ich hätte dich nicht an diesen Ort führen sollen, aber es ist das einzige Plätzchen, das mir eingefallen ist. Hätten wir uns doch ins Gras unter diesen Bäumen gesetzt.«
    »Warum hast du eine solche Abscheu davor. In meinen Augen ist es sehr schön.«
    »Weil es hier in der Sonne ist, naturgemäß jedoch nach unten fließt, unentwegt nach unten, fort vom Licht.«
    »Aber es steigt wieder«, entgegnete ich. »Der Regen, den wir im Frühling erleben, ist dasselbe Wasser, das im Vorjahr im Rinnstein versickert ist. So jedenfalls hat Meister Malrubius es uns gelehrt.«
    Dorcas Lächeln strahlte wie ein Stern. »Es ist gut, so etwas zu glauben, ob’s stimmt oder nicht. Severian, es ist dumm von mir, wenn ich sage, du bist der beste Mensch, den ich kenne, denn du bist der einzige gute Mensch, den ich kenne. Aber selbst wenn ich tausend anderen begegnete, wärst du wohl immer noch der beste. Darüber wollte ich mit dir sprechen.«
    »Wenn du meinen Schutz brauchst, hast du ihn. Das weißt du.«
    »Das ist es überhaupt nicht«, versetzte Dorcas. »Gewissermaßen möchte ich dir den meinen anbieten. Das klingt vielleicht dumm, nicht wahr? Ich habe keine Familie, ich habe niemanden bis auf dich, dennoch glaube ich, dich beschützen zu können.«
    »Du kennst Jolenta und Dr. Talos und Baldanders.«
    »Die sind niemand. Glaubst du das nicht auch, Severian? Selbst ich bin niemand. Aber sie sind weniger als ich. Alle fünf waren wir bis zum Aufstehen im Zelt, trotzdem warst du allein. Du hast mir einmal gesagt, du habest nicht viel Phantasie, aber das mußt du gespürt haben.«
    »Ist es das, wovor du mich beschützen willst – Einsamkeit? Ein solcher Schutz wäre mir willkommen.«
    »Also will ich dir allen Schutz geben, den ich kann, so lange wie ich kann. Aber vor allem will ich dich vor der Meinung der Welt beschützen. Severian, weißt du noch, was ich dir über meinen Traum erzählt habe? Wie alle Leute in den Geschäften und auf der Straße mich nur für ein gräßliches Gespenst gehalten haben? Vielleicht haben sie recht.«
    Sie zitterte, und ich hielt sie fest.
    »Das ist zum Teil der Grund, warum der Traum so schmerzlich ist. Zum anderen Teil kommt es daher, daß ich weiß, in gewisser Weise irren sie. Der widrige Geist ist in mir. Ist ich. Aber es stecken auch andere Dinge in mir, und die machen ebenso aus, was ich bin.«
    »Du könntest nie ein widriger Geist oder irgend etwas Widriges sein.«
    »O doch«, entgegnete sie ernst und blickte zu mir auf. Ihr kleines, geneigtes Gesicht war nie schöner gewesen als damals im Sonnenschein – oder reiner. »O doch, Severian. Genauso wie du sein kannst, was man dich heißt. Was du manchmal bist. Erinnerst du dich, wie wir die Kathedrale haben brennen und im Nu zum Himmel auffahren sehen? Und wie wir zwischen Bäumen über eine Straße zogen, bis wir ein Licht sahen, und es waren Dr. Talos und Baldanders und Jolenta kurz vor Beginn ihrer Aufführung?«
    »Du hast meine Hand gehalten«, sagte ich. »Und wir haben philosophiert. Wie könnte ich das vergessen?«
    »Als wir das Licht erreicht haben und er uns gesehen hat, weißt du noch, was er da gesagt hat?«
    Ich besann mich auf diesen Tag, das Ende des Tages, an dem ich Agilus hingerichtet hatte. In Gedanken hörte ich das Brüllen der Menge, Agias Schrei und dann das Dröhnen von Baldanders’ Trommel. »Er sagte, nun seien alle da, und nannte dich Unschuld und mich Tod.«
    Dorcas nickte ernst. »Richtig. Aber du bist gar nicht der Tod, ganz gleich, wie oft er dich das heißt. Du bist genausowenig der Tod wie ein Schlachter, nur weil er den ganzen Tag Stiere absticht. Für mich bist du das Leben. Du bist ein junger Mann namens Severian, und wolltest du andere Kleider anziehen und ein Zimmermann oder Fischer werden, könnte niemand dich daran hindern.«
    »Ich will nicht aus meiner Zunft austreten.«
    »Aber du könntest. Heute schon. Das ist das Ausschlaggebende. Die Menschen wollen nicht, daß andere Menschen Menschen sind. Sie bewerfen sie mit Namen und sperren sie ein, aber ich will nicht, daß du dich einsperren läßt. Dr. Talos ist schlimmer als die meisten. Auf seine Art ist er

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