Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Klaue des Schlichters

Die Klaue des Schlichters

Titel: Die Klaue des Schlichters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gene Wolfe
Vom Netzwerk:
solcher war) durchmaß sie –zu graziös und behäbig für unsereins – eine kleine, verschwiegene Wiese, als schritte sie zu den unhörbaren Klängen einer wunderlichen Prozession. Offengestanden verharrte ich, bis sie vorüber war, wobei ich mich fragte, ob sie mich ausmachen könnte, so ich im Schatten stand, und ob sie etwas dagegen hätte, daß ich dort stand.
    Als ich schon alle Hoffnung aufgab, das Baumtor je zu finden, entdeckte ich es. Eine Verwechslung war ausgeschlossen. So wie einfache Gärtner Birnen an einem Mauerspalier ziehen, haben die großen Gärtner des Hauses Absolut, denen Generationen zur Vollendung ihrer Werke bleiben, die mächtigen Äste von Eichen geformt, bis jedes Zweiglein sich in eine inspirierende Architektur eingefügt hat, und ich, der ich auf den Dächern des größten Palastes auf Urth geschritten bin, ohne daß auch nur ein Mäuerchen in Sicht gewesen wäre, habe jenes große grüne Tor, aus lebendigem Holz als ob aus Stein erbaut, gewahrt.
    Ich fing zu laufen an.
     

 
XXII
 
Personifikationen
     
    Durch das weite, feuchte Gewölbe des Baumtors lief ich, und hinaus auf eine breite Wiese, von Zelten übersät. Irgendwo brüllte ein Megatherium und rasselte mit seinen Ketten. Ansonsten schien mir alles still. Lauschend blieb ich stehen, und das Megatherium sank, von meinen Schritten nicht mehr gestört, wieder in den totenähnlichen Schlaf seiner Art. Ich konnte hören, wie der Tau von den Blättern tropfte, und vernahm von fern das abgesetzte Zwitschern der Vögel.
    Noch ein Laut drang an mein Ohr. Ein schwaches, schnalzendes Geräusch, schnell und unregelmäßig, das stärker wurde, als ich danach lauschte. Ich folgte den Tönen durch eine enge Gasse zwischen den stillen Zelten. Ich hatte es jedoch wohl nicht richtig zu deuten gewußt, denn Dr. Talos sah mich eher.
    »Mein Freund! Mein Partner! Sie schlafen alle – deine Dorcas und der Rest. Alle bis auf dich und mich. Hierher!«
    Er schwang seinen Gehstock; das schnalzende Geräusch hatte davon hergeführt, daß er damit Blüten köpfte.
    »Du kommst rechtzeitig. Gerade noch rechtzeitig! Wir treten heute abend auf, und ich wäre gezwungen gewesen, einen dieser Burschen für deine Rolle zu engagieren. Ich bin entzückt, dich zu sehen! Ich schulde dir noch Geldkannst du dich erinnern? Nicht viel, und zwischen uns gesagt, falsches noch dazu. Aber geschuldet ist geschuldet, und ich zahle immer.«
    »Ich kann mich nicht erinnern«, sagte ich, »also kann es keine große Summe gewesen sein. Wenn Dorcas wohlauf ist, will ich’s gern vergessen, vorausgesetzt du gibst mir etwas zu essen und zeigst mir, wo ich ein paar Wachen schlafen kann.«
    Der Doktor verzog die spitze Nase, um sein Bedauern auszudrücken. »Schlaf kannst du zur Genüge haben, bis die andern dich wecken. Aber Essen haben wir leider keins. Baldanders, weißt du, ist unersättlich wie ein Feuer. Der Festordner hat versprochen, heute genug für alle zu bringen.« Er deutete mit seinem Stock unschlüssig auf die bunt zusammengewürfelte Zeltstadt. »Aber das wird, fürchte ich, frühestens am Vormittag geschehen.«
    »Soll mir recht sein. Ich bin sowieso zu müde zum Essen, aber wenn du mir zeigen würdest, wo ich mich hinlegen kann …«
    »Was ist mit deinem Kopf passiert? Macht nichts – das können wir mit Schminke abdecken. Hier entlang!« Er war mir bereits vorausgegangen. Ich folgte ihm durch ein Gewirr von Spannseilen zu einer bläulich-roten Kuppel. Baldanders Handkarre stand am Eingang, und endlich war ich mir sicher, Dorcas wiedergefunden zu haben.
     
    Beim Erwachen war es so, als wären wir nie getrennt gewesen. Meine grazile, anmutige Dorcas hatte sich nicht verändert; die blendende Jolenta stellte sie wie immer in den Schatten, dennoch wünschte ich, als wir drei beisammen waren, sie würde gehen, denn ich hatte nur Augen für Dorcas. Etwa eine Stunde nach dem gemeinsamen Aufstehen nahm ich Baldanders zur Seite und fragte ihn, warum er mich im Wald jenseits des Erbärmlichen Tores verlassen hatte.
    »Ich war nicht mit dir«, sagte er bedächtig, »ich war mit Dr. Talos unterwegs.«
    »Ich auch. Wir hätten ihn gemeinsam suchen und einander behilflich sein können.«
    Er zögerte; ich spürte förmlich die Last seiner stumpfen Augen auf meinem Gesicht und dachte, was wäre er für ein furchterregender Koloß, besäße er Tatkraft und den Willen zum Zorn. Schließlich fragte er: »Warst du auch bei uns, als wir die Stadt verließen?«
    »Natürlich.

Weitere Kostenlose Bücher