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Die Klaue des Schlichters

Die Klaue des Schlichters

Titel: Die Klaue des Schlichters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gene Wolfe
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ein Lügner …«
    Sie ließ den Vorwurf offen, und ich warf ein: »Baldanders hat mir einmal versichert, daß er selten lüge.«
    »Auf seine Art, sagte ich. Baldanders hat recht. Dr. Talos lügt nicht in dem Sinn, wie andere Leute es verstehen. Dich als Tod zu bezeichnen, war keine Lüge, sondern eine … eine …«
    »Metapher«, ergänzte ich.
    »Aber eine gefährliche, böse Metapher, die wie eine Lüge auf dich abgezielt war.«
    »Du glaubst also, daß Dr. Talos mich haßt? Ich würde sagen, er gehört zu den wenigen, die mir seit meinem Auszug aus der Zitadelle wirklich freundlich gesinnt sind. Du, Jonas – er ist nicht mehr da – eine Greisin, der ich im Gefängnis begegnet bin, ein Mann in einer gelben Robe – der mich übrigens auch Tod genannt hat – und Dr. Talos. Eigentlich eine kurze Liste.«
    »Er haßt wohl kaum so, wie man es darunter versteht«, entgegnete Dorcas sachte. »Oder liebt so, was das angeht. Er will alles, worauf er stößt, beeinflussen, es seinem Willen gemäß verändern. Und da sich etwas leichter niederreißen als aufbauen läßt, tut er meistens das.«
    »Aber Baldanders scheint ihn wirklich zu mögen«, versetzte ich. »Ich habe einmal einen verkrüppelten Hund gehabt, und mir ist aufgefallen, daß Baldanders den Doktor genauso ansieht wie Triskele mich immer angesehen hat.«
    »Ich verstehe, was du meinst, aber mir kommt es nicht so vor. Hast du dir je überlegt, wie du wohl ausgesehen hast, als du deinen Hund angeblickt hast? Weißt du irgend etwas über ihr bisheriges Leben?«
    »Nur, daß sie einst gemeinsam ein Haus am See Diaturna bewohnten. Offenbar brannten es die Leute dort nieder und verjagten sie.«
    »Glaubst du denn, daß Dr. Talos Baldanders Sohn sein könnte?«
    Der Gedanke war so abwegig, daß ich erleichtert lachte.
    »Egal«, sagte Dorcas. »So verhalten sie sich jedenfalls. Wie ein Vater, der schwer von Begriff ist und Schwerstarbeit leistet, mit einem brillanten, launenhaften Sohn. So kommt es mir zumindest vor.«
    Erst als wir die Bank verlassen und uns auf den Weg zum Grünen Zimmer (das dem Bild, welches Rudesind mir gezeigt hatte, ebensowenig ähnelte wie irgendein anderer Garten hier) gemacht hatten, kam mir der Gedanke, ob das Wort »Unschuld« für Dorcas aus dem Munde Dr. Talos’ nicht die gleiche Metapher sein mochte.
     

 
XXIII
 
Jolenta
     
    Der alte Obstgarten und der Kräutergarten waren so still, so mit Vergessenheit beladen gewesen, daß sie mich an das Atrium der Zeit und Valeria mit ihrem feinen, pelzumrahmten Gesicht erinnerten. Im Grünen Zimmer war die Hölle los. Alles war nun auf den Beinen und brüllte, wie es zuweilen schien. Kinder kletterten auf die Bäume, um die Vögel aus den Käfigen zu befreien, von Mutters Besen und Vaters Wurfgeschossen verfolgt. Zelte wurden abgebrochen, noch während die Proben stattfanden, so daß vor meinen Augen eine scheinbar unerschütterliche Pyramide aus gestreifter Leinwand in sich zusammensackte wie eine abgelassene Fahne und darunter das grasgrüne Megatherium, auf den Hinterbeinen tänzelnd, während auf seiner Stirn eine Tänzerin Pirouetten drehte, zum Vorschein kam.
    Baldanders und unser Zelt waren verschwunden, aber sogleich hastete Dr. Talos heran und führte uns eilig über verschlungene Wege, vorüber an Balustraden, Wasserfällen und Grotten, die mit rohem Topas und blühendem Moos ausgefüllt waren, zu einer Senke mit gemähtem Gras, worin der Riese unter den Blicken eines Dutzend weißer Hirsche mühsam unsere Bühne errichtete.
    Es sollte eine viel aufwendigere Bühne werden als diejenige, auf der ich innerhalb der Stadtmauer von Nessus gespielt hatte. Bedienstete des Hauses Absolut hatten offenbar Balken und Nägel, Werkzeug, Farben und Stoffe in solchen Mengen gebracht, wie wir sie unmöglich verwerten konnten. Diese Großzügigkeit hatte Dr. Talos’ Hang zum Grandiosen (der nie ganz schlummerte) geweckt, so daß er einerseits Baldanders und mir bei den schwereren Aufbauarbeiten zur Hand ging, daneben aber wie wild das Manuskript seines Schauspiels ergänzte.
    Der Riese war unser Zimmermann und schuftete trotz seiner Behäbigkeit so stetig und kraftvoll – einen daumendicken Nagel trieb er mit ein, zwei Schlägen ins Holz, und einen Balken, an dem ich eine ganze Wache lang gesägt hätte, kürzte er mit wenigen Axthieben – wie zehn Sklaven unter der Peitsche.
    Dorcas entdeckte bei sich ein Talent zum Malen, das zumindest mich in Erstaunen versetzte. Gemeinsam haben wir die

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