Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Klaue des Schlichters

Die Klaue des Schlichters

Titel: Die Klaue des Schlichters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gene Wolfe
Vom Netzwerk:
schwarzen Platten aufgestellt, die das Sonnenlicht aufnehmen, nicht nur um Energie für die nächtliche Vorstellung zu speichern, sondern um schon jetzt die Projektoren in Gang zu setzen. Diese Geräte vermögen einen Hintergrund von tausend Meilen ebenso leicht wie das Innere einer Hütte darzustellen, aber die Illusion ist nur bei völliger Dunkelheit vollständig. Deshalb ist es angebracht, sie mit rückwärtigen gemalten Szenen zu verstärken, und diese hat Dorcas nun mit großem Geschick geschaffen, hüfttief in den Bergen stehend, während sie die Pinsel durch das im Tageslicht blasse Bild geführt hat.
    Jolenta und ich waren weniger nützlich. Ich hatte keine zeichnerische Begabung und zu wenig Ahnung von den Erfordernissen des Spiels, um dem Doktor auch nur beim Vorbereiten der Requisiten helfen zu können. Jolenta war physisch und psychisch wohl jegliche Arbeit zuwider, ganz gewiß aber diese. Ihre langen Beine, so schlank unter den Knien, so drall darüber, waren ungeeignet, mehr als die Last ihres Leibes zu tragen; mit ihren vorspringenden Brüsten war sie der ständigen Gefahr ausgesetzt, sich die Warzen im Bauholz zu quetschen oder mit Farbe zu beschmieren. Noch hatte sie nichts von jenem Geist, der die Mitglieder einer Gruppe antreibt, sich für das gemeinsame Ziel einzusetzen. Dorcas hatte gesagt, daß ich in der letzten Nacht allein gewesen sei, und vielleicht hatte sie damit recht, als ich vermutet hatte, Jolenta indes war noch einsamer. Dorcas und ich hatten einander, Baldanders und der Doktor ihre krumme Freundschaft, und uns alle verband das Spiel auf der Bühne. Jolenta hatte jedoch nur sich selbst, die ständige Darbietung, die einzig zum Zweck hatte, Bewunderung zu hamstern.
    Sie tippte mich auf den Arm und deutete, indem sie stumm die großen Augen rollte, auf den Rand unseres natürlichen Amphitheaters, wo Kastanienbäume ihre weißen Kerzen zwischen den hellen Blättern emporstreckten.
    Da uns keiner der anderen sah, nickte ich. Nach Dorcas wirkte Jolenta an meiner Seite fast so groß wie Thecla, obwohl sie im Gegensatz zu Theclas wiegendem Schreiten kleine Schritte machte. Sie war mindestens um einen Kopf größer als Dorcas, und ihre Frisur ließ sie noch größer erscheinen; zudem trug sie Schnürschuhe mit hohen Reitabsätzen.
    »Ich will es sehen«, sagte sie. »Es ist die einzige Gelegenheit, die ich je haben werde.«
    Das war unverkennbar eine Lüge, aber ich antwortete, als glaubte ich ihr: »Das gilt auch umgekehrt. Heute, und nur heute, hat das Haus Absolut Gelegenheit, dich zu sehen.«
    Sie nickte; ich hatte eine scharfsinnige Wahrheit verkündet. »Ich brauche jemanden – jemanden, den diejenigen, mit denen ich nicht sprechen will, fürchten. Ich meine all diese Schausteller und Komödianten. Als du weg warst, wollte nur Dorcas mit mir gehen, und die fürchtet keiner. Könntest du dieses Schwert zücken und über der Schulter tragen?«
    Ich kam ihrem Wunsch nach.
    »Wenn ich nicht lächle, verjage sie! Verstanden?«
    Das Gras unter den Kastanien war viel länger als in unserem natürlichen Amphitheater, aber weich wie Farn; der Weg war mit golden geädertem Quarzkies bedeckt.
    »Wenn mich nur der Autarch sähe, er würde mich begehren. Glaubst du, er kommt zu unserer Darbietung?«
    Um ihr zu schmeicheln, nickte ich, fügte aber hinzu: »Ich habe gehört, er hat für Frauen wenig Verwendung, seien sie auch noch so schön, außer als Ratgeberinnen, Spioninnen und Schildherrinnen.«
    Sie blieb stehen und wandte sich mir lächelnd zu. »Das ist es ja. Verstehst du denn nicht? Ich kann jeden dazu bringen, mich zu begehren, also auch ihn, den Einzigen Autarchen, dessen Träume unsere Wirklichkeit, dessen Erinnerungen unsere Geschichte sind. Auch er wird mich begehren, und sei er auch entmannt. Du hast neben mir andere Frauen gewollt, nicht wahr? Heftigst gewollt hast du sie?«
    Ich bejahte.
    »Also glaubst du, mich zu begehren, wie du sie gewollt hast.« Sie wandte sich ab und fing wieder zu gehen an, ein wenig humpelnd, wie man bei ihr immer den Eindruck hatte, nun aber übertrieben, um das eigene Argument zu betonen. »Aber ich lasse jeden Mann erstarren und jede Frau lüstern erschaudern. Frauen, die noch nie eine Frau geliebt, wollen mich lieben – hast du das gewußt? Selbige kommen immer wieder zu unseren Darbietungen und schicken mir ihr Essen und ihre Blumen, Schals, Stolen und Spitzentaschentücher mit ach so schwesterlichen, mütterlichen Zeilen. Sie beschützen mich,

Weitere Kostenlose Bücher