Die Kleinbürger (German Edition)
sie ist heute früh mit der Post abgereist.«
»Mit der Post?« wiederholte la Peyrade verblüfft, »hat sie denn Paris verlassen?«
»Es scheint so«, antwortete die schreckliche Portiersfrau; »es ist ja doch nicht üblich, daß man Pferde und einen Postillon nimmt, wenn man von einem Quartier ins andere zieht.«
»Sie hat Ihnen nicht gesagt, wo sie hingeht?«
»Ach, der Herr hat komische Begriffe, wenn er denkt, daß man uns Rechenschaft ablegt!«
»Nein, aber wenn noch Briefe für sie kommen ...«
»Briefe soll ich dem Herrn Kommandeur übergeben, dem kleinen Alten, der oft zu ihr kam, der Herr muß ihm ja begegnet sein.«
»Ja, ja, gewiß,« sagte la Peyrade, der trotz der Schläge, die ihn einer nach dem andern trafen, seine Geistesgegenwart bewahrte, »der kleine gepuderte alte Herr, der fast täglich herkam.«
»Täglich, das ist nicht richtig, aber häufig kam er; nun, der ist es, an den ich die Briefe für die Frau Gräfin abgeben soll.«
»Und für ihre andern Bekannten,« bemerkte der Provenzale wie nebenbei, »hat sie Ihnen keinen Auftrag gegeben?«
»Gar keinen.«
»Es ist gut, liebe Frau,« sagte la Peyrade, »ich danke Ihnen.«
Und er schickte sich an, fortzugehen.
»Ich denke,« meinte die Portiersfrau, »das Fräulein muß darüber besser Bescheid wissen als ich; geht der Herr nicht rauf? Sie ist zu Hause, Herr Thuillier auch.«
»Nein, das ist überflüssig«, sagte la Peyrade; »ich wollte Frau von Godollo nur über einen Auftrag, den sie mir gegeben hatte, berichten. Ich habe keine Zeit, mich aufzuhalten ...«
»Ja, wie ich Ihnen sagte, heute früh ist sie mit der Post weggefahren. Ach, mein Gott, vor zwei Stunden hätte der Herr sie noch hier getroffen; aber wo sie die Post genommen hat, muß sie jetzt schon weit weg sein.«
Mit ihrer Manier, alles zweimal zu sagen, schien die Frau, die dem Provenzalen so grausame Nachrichten verkündet hatte, sich noch über die Einzelheiten auslassen zu wollen, die für ihn so qualvoll waren. Er eilte deshalb fort, Verzweiflung im Herzen. Abgesehen von seinem Kummer über diese überstürzte Abreise, fing auch die Eifersucht an, sich seiner zu bemächtigen, und während das Empfinden so bitter getäuschter Hoffnungen in ihm bohrte, zogen die entmutigendsten Erklärungen durch sein Gehirn.
Nachdem er etwas nachgedacht hatte, sagte er sich: »Diese Diplomatenweiber sind häufig mit vertraulichen Missionen betraut, wo vollkommenste Diskretion und äußerst schnelles Handeln verlangt werden.«
Dann sagte er sich wieder mit plötzlichem Umschlag:
»Wenn sie aber eine Intrigantin sein sollte, wie sie die fremden Regierungen als Agenten benutzen? Wenn die mehr oder weniger wahrscheinliche Geschichte der russischen Prinzessin, die ihre Möbel an Brigitte verkaufen mußte, auch auf meine Ungarin zuträfe? Aber«, fuhr er mit einer dritten Wendung seiner Gedanken fort, während seine Ideen und Gefühle sich in schrecklichem Durcheinander jagten, »ihre Erziehung, ihre Manieren, ihre Sprache, alles spricht für eine Frau, die einen hohen Rang in der Gesellschaft einnimmt; und wenn sie nur ein Zugvogel wäre, was hätte sie genötigt, sich solche Mühe um mich zu geben?«
La Peyrade hätte noch lange dieses Für und Wider bei sich abwägen können, wenn er sich nicht plötzlich umschlungen gefühlt und eine bekannte Stimme laut rufen gehört hätte:
»Aber, mein lieber Advokat, sehen Sie sich doch vor! Hier droht ja ein furchtbarer Sturz, und Sie laufen direkt in Ihr Verderben!«
Und la Peyrade, der wie aus einem Traume erwachte, sah sich in Phellions Armen.
Der Auftritt spielte sich vor einem Hause ab, das an der Ecke der Rue Duphot und der Rue Saint-Honoré abgerissen wurde.
Gegenüber hatte Phellion, an dessen Vorliebe für Arbeiten »an Bauwerken« man sich erinnern wird, auf dem Bürgersteig Posto gefaßt und sah seit einer Viertelstunde dem Schauspiel zu, wie ein Stück Mauer unter den vereinigten Anstrengungen eines Trupps Arbeiter herunterstürzen sollte, und mit der Uhr in der Hand berechnete der große Mitbürger die Dauer des Widerstandes, den diese Masse aus Bruchsteinen und Mörtel der Zerstörungsarbeit an ihr noch leisten konnte.
Es war gerade der Augenblick des unmittelbar drohenden Niedersturzes, als la Peyrade, in seine durcheinander jagenden Gedanken versunken, daherkam, ohne die Zurufe, die von allen Seiten ertönten, zu hören, und den Umkreis betrat, innerhalb dessen aller Wahrscheinlichkeit nach der Sturz des »Aerolithen«
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