Die Kleinbürger (German Edition)
erfolgen mußte. Von Phellion bemerkt, der sich übrigens auch auf einen Unbekannten gestürzt hätte, entging la Peyrade augenscheinlich so einem scheußlichen Tode, denn in dem Augenblicke, wo er von den kräftigen Armen des Quartier Latin-Bewohners zurückgerissen wurde, schlug die Mauer mit Donnergepolter inmitten einer Staubwolke, die sich erhob, wenige Schritte von ihm auf den Boden.
»Sind Sie denn taub und blind?« beeilte sich der Arbeiter, der aufgestellt war, um die Passanten zu warnen, in einem Tone, dessen Liebenswürdigkeit man sich vorstellen kann, ihm zuzurufen.
»Ich danke Ihnen, mein lieber Herr!« sagte la Peyrade, der wieder in die Wirklichkeit zurückgekehrt war; »ohne Sie hätte ich mich in törichter Weise totschlagen lassen.«
Und er drückte Phellion die Hand.
»Meine Belohnung«, erwiderte dieser, »ist die Genugtuung, Sie einer so drohenden Gefahr entgangen zu wissen, und ich kann sagen, daß diese Genugtuung ein wenig mit Stolz darüber verbunden ist, daß ich mich nicht um zwei Sekunden in meiner Berechnung geirrt hatte, die mir gestattete, den Zeitpunkt zu fixieren, in dem dieser furchtbare Block seinen Schwerpunkt verlegt haben würde. Aber womit waren denn Ihre Gedanken beschäftigt, mein werter Herr? Gewiß mit Ihrem Plaidoyer in der Affäre Thuillier; die öffentlichen Organe haben mich von der drohenden Gefahr in Kenntnis gesetzt, die zur Sühnung eines Vergehens gegen die Gesellschaftsordnung über dem Haupte unseres achtungswerten Freundes schwebt. Es ist eine gute Sache, die Sie zu verteidigen haben, mein Herr. Denn Hand aufs Herz, und im übrigen damit vertraut, geistige Erzeugnisse zu beurteilen, wie ich es durch meine Tätigkeit als Mitglied des Lesekomitees am Odeon bin, ich kann nicht finden, nachdem ich von mehreren Seiten der inkriminierten Schrift Kenntnis genommen habe, daß der Ton dieser Broschüre ein solcher ist, der die scharfen Maßregeln, die gegen ihn in Anwendung gebracht sind, rechtfertigen könnte ... Unter uns gesagt,« fügte der große Mitbürger leise hinzu, »ich muß gestehen, daß die Regierung sich eines kleinlichen Verhaltens schuldig gemacht hat.«
»Das ist auch meine Ansicht,« sagte la Peyrade, »aber ich bin nicht mit der Verteidigung beauftragt; ich habe Thuillier veranlaßt, irgendeinen berühmten Advokaten als Beistand zu nehmen.«
»Das kann ein guter Rat sein,« erklärte Phellion, »und jedenfalls ehrt Sie Ihre Bescheidenheit. Sie kommen wohl eben von ihm, verehrter Freund? Ich war gerade an dem Tage bei ihm, wo die Bombe platzte, und ich wollte eben wieder hingehen. Bei meinem letzten Besuche habe ich ihn nicht angetroffen, sondern nur Brigitte, die sich in eifriger Unterhaltung mit Frau von Godollo befand, das ist eine Frau mit politischem Blick, sie hatte wahrhaftig die Beschlagnahme vorausgesagt.«
»Wissen Sie schon, daß die Gräfin Paris verlassen hat?« sagte la Peyrade, der sich auf jede Gelegenheit stürzte, um von der Sache, die ihn jetzt ausschließlich beschäftigte, zu reden.
»Oh, sie ist abgereist!«, sagte Phellion. »Nun, ich muß Ihnen sagen, wenn auch zwischen ihr und Ihnen wenig Sympathie bestand, daß ich ihre Abreise für ein Unglück halte; sie wird eine große Lücke im Salon unserer Freunde hinterlassen; ich sage das, weil ich so denke und nicht die Gewohnheit habe, was ich denke zu verhehlen.«
»O ja,« bemerkte la Peyrade, »sie ist eine sehr vornehme Dame, mit der ich mich, wie ich glaube, trotz ihrer Voreingenommenheit schließlich doch verständigt hätte; sie ist heute, ohne anzugeben wohin, plötzlich mit der Post abgereist.«
»Ach, mit der Post!« erwiderte Phellion. »Ich weiß nicht, ob Sie ebenso denken wie ich, daß das eine sehr angenehme Art zu reisen ist; Ludwig XI., dem wir diese Einrichtung verdanken, hat da sicherlich eine recht glückliche Idee gehabt, wie sehr auch andererseits seine blutige und despotische Regierung nach meiner schwachen Einsicht durchaus nicht über jeden Vorwurf erhaben ist. Ich habe einmal in meinem Leben von diesem Mittel der Ortsveränderung Gebrauch gemacht, und ich muß sagen, daß ich es, trotz seiner verhältnismäßig geringeren Geschwindigkeit, dem verrückten Rennen dieser railways oder Eisenbahnen, deren Schnelligkeit nur um den Preis der Sicherheit der Reisenden und Steuerzahler erkauft wird, für bei weitem überlegen halte.«
La Peyrade schenkte dem Redeschwall Phellions nur wenig Aufmerksamkeit. ›Wo kann sie nur hingegangen sein?‹ Da ihn das
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