Die Kleinbürger (German Edition)
benachbarte Kneipe mitschleppen zu lassen, wo er, zwischen zwei Glas Wein, gegen einen Republikaner, der sehr respektlos über die Hausbesitzer redete, diesen die Stange hielt.
Erst nach Verlauf von zwanzig Minuten erinnerte sich der würdige Hauswart an den seiner Aufsicht anvertrauten »Grundbesitz« und entschloß sich, auf seinen Posten zurückzukehren. Man kann sich vorstellen, mit welcher Flut von Vorwürfen er von la Peyrade begrüßt wurde. Er entschuldigte sich damit, daß er eine dringende Besorgung für »Fräulein« zu machen gehabt hätte und daß er doch nicht zu gleicher Zeit an seiner Tür und dort, wo ihn die Herrschaft hingeschickt hätte, sein könne.
Schließlich übergab er dem Advokaten einen in Paris abgestempelten Brief. Mehr mit dem Herzen als mit den Augen erkannte der Provenzale die Handschrift, und nachdem er ihn umgedreht hatte, bewiesen ihm das Wappen und die Devise, daß er endlich das Ende der furchtbarsten Aufregung, die er in seinem ganzen Leben durchgemacht hatte, erreicht habe.
Den Brief vor dem gräßlichen Portier zu lesen, erschien ihm wie eine Profanation; mit dem allen Liebenden bekannten Raffinement machte er sich die Freude, seine Freude noch etwas zu verzögern, und wollte die glückverheißende Epistel erst öffnen, wenn er hinter geschlossener Tür, wo ihn keine Zerstreuung davon abziehen konnte, in der Lage sein würde, mit Behagen das köstliche Gefühl, von dem er schon den Vorgeschmack empfand, auszukosten.
Nachdem er die Treppe in einem Sprunge hinaufgeflogen war, benahm sich der Provenzale so kindisch, daß er die Tür verschloß, und als er endlich bequem an seinem Schreibtische Platz genommen und das Siegel mit peinlicher Sorgfalt gelöst hatte, mußte er mit der Hand sein Herz festhalten, das ihm aus der Brust zu springen drohte. Der Brief aber lautete:
»Mein werter Herr, ich bin für immer verschwunden, da meine Rolle ausgespielt ist. Ich danke Ihnen, daß Sie sie mir ebenso anziehend wie leicht gemacht haben. Indem ich Sie mit den Thuilliers und den Collevilles verfeindet habe, die jetzt Ihre wahren Gefühle gegen sie kennen und denen ich eingehend die an sich schon ziemlich ›erschwerenden‹ näheren Umstände Ihres brüsken und unwiderruflichen Bruchs in einer für ihre bourgeoise Eigenliebe höchst unangenehmen Art auseinandersetzte, bin ich stolz und glücklich darüber, daß ich Ihnen einen ausgezeichneten Dienst geleistet habe. Die Kleine liebt Sie nicht, und Sie selbst lieben nur die schönen Augen ihrer Mitgift. Ich habe Sie beide also vor einem Höllenleben bewahrt. Als Ersatz für Ihre Zukünftige, die Sie so derb abgeschüttelt haben, ist Ihnen ein entzückendes Mädchen bestimmt; sie ist reicher und schöner als Fräulein Colleville und, um zum Schlusse von mir zu reden, freier als
Ihre unwürdige Dienerin,
Frau Torna, Gräfin von Godollo.
P.S. Wegen näherer Auskünfte wollen Sie sich ohne Verzug an Herrn du Portail, Rentier, Rue Honoré-Chevalier, nahe bei der Rue Cassette, im Bezirk Saint-Sulpice, wo Sie erwartet werden, wenden.«
Nachdem er gelesen hatte, hielt sich der Armenadvokat den Kopf mit beiden Händen fest; er konnte nicht mehr sehen, nicht mehr hören, nicht mehr denken – er war vernichtet.
Es bedurfte mehrerer Tage, bis sich la Peyrade von dem Keulenschlag, der auf ihn niedergesaust war, erholen konnte. Es war ihm in der Tat Furchtbares widerfahren: aus dem goldenen Traume erwacht, der ihm eine so lachende Zukunft vorgespiegelt hatte, sah er sich in einer Weise an der Nase herumgeführt, die für seine Eigenliebe und seinen Anspruch, als scharfsinnig und gewandt zu gelten, besonders verletzend war; er sah sich mit den Thuilliers rettungslos verfeindet und mit einer Schuld von fünfundzwanzigtausend Franken belastet, die allerdings erst nach längerer Zeit rückzahlbar war; aber er hatte sich auch verpflichtet, einen weiteren Betrag von zehntausend Franken an Brigitte zu zahlen, bei der mit Rücksicht auf seine Würde ein längeres Aufschieben nicht möglich war; schließlich aber – und das war der Gipfel seiner Demütigung und seiner getäuschten Hoffnung – fühlte er sich noch nicht ganz von der leidenschaftlichen Zuneigung zu der Frau geheilt, die die Urheberin seines sichtbaren Sturzes und das Werkzeug für seinen Ruin gewesen war. Entweder war diese Delila eine sehr große Dame, so hochgestellt, daß sie den kompromittierendsten Launen freien Lauf lassen konnte: dann hätte sie die Rolle der großen Kokette
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