Die Kleinbürger (German Edition)
war.«
»Wie?« fragte la Peyrade und musterte den Sekretär mit forschendem Blick, »du hast nie von der Gräfin Torna von Godollo reden hören?«
»Niemals in meinem ganzen Leben; ich höre diesen Namen zum erstenmal aussprechen.«
»Dann muß es sich also um eine andere Partie handeln,« sagte la Peyrade, »denn diese Dame hat mir, nach verschiedene Präliminarien – es würde zu viel Zeit beanspruchen, wenn ich dir davon erzählen wollte – ganz formell die Hand eines jungen Mädchens angetragen, die viel reicher ist als Fräulein Colleville.«
»Und majorenn? Und hysterisch?« fragte Cérizet.
»Nein, mit diesen Beigaben hat man mir das Anerbieten nicht schmackhafter gemacht; aber ein anderer Umstand kann dich vielleicht auf die Spur führen. Frau von Godollo hat mich aufgefordert, wenn ich auf die Sache eingehen wolle, einen Herrn du Portail, einen Rentier, aufzusuchen.«
»In der Rue Honoré-Chevalier?« fragte Cérizet lebhaft.
»Richtig.«
»Also dann ist es dieselbe Partie, die dir von zwei verschiedenen Seiten angeboten wird; nur ist es merkwürdig, daß ich über die Mitarbeiterschaft nicht unterrichtet worden bin.«
»Und zwar so wenig,« sagte la Peyrade, »daß du nicht nur keine Ahnung von dem Dazwischentreten der Gräfin gehabt hast, sondern daß du sie auch nicht kennst und mir keinerlei Nachricht über sie geben kannst?«
»Augenblicklich nicht«, erwiderte der Wucherer; »aber ich könnte mich erkundigen, denn das Vorgehen mir gegenüber kommt mir nicht gerade sehr anständig vor; im übrigen muß diese Verwendung von zweien dir beweisen, wie sehr du der Familie erwünscht bist.«
In diesem Augenblick wurde die Tür des Zimmers vorsichtig geöffnet; der Kopf einer Frau erschien und eine Stimme, die la Peyrade sofort erkannte, sagte zu dem Sekretär:
»Oh, Verzeihung! Der Herr ist beschäftigt. Könnte ich mit dem Herrn ein Wort sprechen, wenn er frei ist?«
Cérizet, dessen Blick ebenso schnell war wie seine Hand, beobachtete nun folgendes: La Peyrade, der so saß, daß er von der Neuangekommenen gesehen werden konnte, hatte sich, sobald er die süßliche, schleppende Stimme vernommen hatte, schnell so umgedreht, daß er ihr sein Gesicht verbarg. Statt nun barsch abgewiesen zu werden, wie es den meisten Bittstellern geschah, die sich an den brummigsten und unfreundlichsten aller Sekretäre wandten, hörte die zurückhaltende Besucherin ihn ausrufen:
»Kommen Sie doch herein, Frau Lambert, Sie würden sonst zu lange warten müssen.«
Und als sie sich nun la Peyrade gegenüber sah, rief seine Gläubigerin, die der Leser wiedererkannt haben wird, aus:
»Ach, der Herr Armenadvokat! Wie glücklich bin ich, daß ich den Herrn treffe! Ich bin mehrmals bei Ihnen gewesen und wollte fragen, ob Sie schon Zeit gefunden haben, sich mit meiner kleinen Sache zu beschäftigen.«
»Es ist richtig,« sagte la Peyrade, »ich hatte seit einiger Zeit zahlreiche Abhaltungen, die mich von meinem Arbeitszimmer fernhielten; aber die Sache ist in Ordnung und dem Sekretariat unterbreitet worden.«
»Ach, der Herr ist so gütig!« sagte die Frömmlerin mit gefalteten Händen.
»So, du hast Geschäfte mit Frau Lambert?« sagte Cérizet; »davon hast du mir ja nichts gesagt. Bist du der Berater des alten Picot?«
»Leider nicht,« sagte die Frau, »mein Herr hat ja von niemandem Rat annehmen wollen; das ist ein so eigensinniger und eigenwilliger Mann! Aber, werter Herr, ist es denn wahr, daß noch ein Familienrat stattfinden soll?«
»Gewiß,« antwortete Cérizet, »und zwar schon morgen.«
»Aber, lieber Herr, wenn doch die Herren vom Obergericht erklärt haben, daß die Familie unrecht hat!?«
»Ja, gewiß,« entgegnete der Sekretär, »das Gericht erster Instanz und dann das Obergericht, das die Verwandten angerufen hatten, haben die Klage auf Entmündigung abgewiesen.«
»Das habe ich ja auch erwartet!« sagte die Scheinheilige; »einen Mann für verrückt erklären wollen, der seine Geisteskräfte so vollständig beisammen hat!«
»Aber die Verwandten lassen nicht locker; sie haben die Sache in anderer Weise wieder aufgenommen und verlangen jetzt die Einsetzung eines Schiedsgerichtes: deshalb tritt morgen der Familienrat zusammen, und diesmal, meine liebe Frau Lambert, glaube ich, kann es sehr leicht geschehen, daß der alte Picot an die Strippe gelegt wird. Es handelt sich um sehr schwerwiegende einzelne Tatsachen; etwas beiseite bringen, das ist ja nicht schlimm; aber einen gleich bis aufs
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