Die Kleinbürger (German Edition)
Hemd ausziehen!«
»Aber, wie kann der Herr bloß so was glauben!« sagte die Frömmlerin und hob die gefalteten Hände mit einer Armbewegung bis zum Kinn empor.
»Ich glaube gar nichts,« sagte Cérizet, »ich bin ja nicht Richter in der Sache; aber die Verwandten behaupten, daß Sie erhebliche Summe veruntreut haben und daß Sie damit Anlagen gemacht haben, worüber sie eine Untersuchung beantragen.«
»Mein Gott,« sagte die Frau, »sie können sich ja überzeugen; ich besitze doch nicht einen Rentenbrief, nicht eine Aktie, nicht einen Wechsel, nicht die geringste Wertsache.«
»Oh,« sagte Cérizet und warf la Peyrade einen Seitenblick zu, »es gibt doch gefällige Freunde, die einen Unterschlupf gewähren ... Übrigens geht mich das ja nichts an, jeder muß vor seiner Tür kehren; was wollten Sie mir denn zur Sache sagen?«
»Ich wollte Sie inständig bitten, Sie, lieber Herr, und den Herrn Gerichtsvollzieher, daß Sie beide zu unsern Gunsten mit dem Herrn Friedensrichter sprechen möchten; auch der Herr Vikar von Saint-Jacques muß uns ja empfehlen ... Ach, der arme Mann,« fuhr sie weinend fort, »wenn man ihn weiter so quält, wird er ja den Tod davon haben.«
»Der Herr Friedensrichter,« sagte Cérizet, »das kann ich Ihnen nicht verhehlen, ist schlecht auf Sie zu sprechen; Sie haben ja gesehen, daß er Sie neulich nicht empfangen wollte. Was den Herrn Gerichtsvollzieher und mich anlangt, so vermögen wir ja nicht viel auszurichten, und außerdem, meine Gute, sind Sie auch, verstehen Sie, zu zugeknöpft.«
»Der Herr hat mich ja gefragt, ob ich nicht einige kleine Ersparnisse besitze; ich kann doch nicht sagen, daß ich welche habe, wo doch gerade im Gegenteil alles für die Wirtschaft des armen Herrn Pi-i-cot draufgegangen ist, den ich, wie sie mich anklagen, noch bestoh-oh-ohlen haben soll!«
Frau Lambert hatte angefangen zu schluchzen.
»Meiner Meinung nach«, sagte Cérizet, »stellen Sie sich ärmer, als Sie sind, und wenn Freund la Peyrade, der Ihr volles Vertrauen zu genießen scheint, durch das strenge Berufsgeheimnis nicht der Mund geschlossen wäre ...«
»Ich?« erklärte la Peyrade lebhaft, »ich weiß nichts von Frau Lamberts Geschäften; sie hat mich nur gebeten, ihr eine Bittschrift aufzusetzen in einer Angelegenheit, die weder mit Gerichts-, noch mit Geldsachen etwas zu tun hat.«
»So,« sagte Cérizet, »also wegen dieser Bittschrift ist sie an dem Tage, wo ihr Dutocq begegnete, bei dir gewesen; du weißt, am Tage nach unserm berühmten Diner im ›Rocher de Cancale‹, wo du dich so als Römer aufgespielt hast.«
Dann fügte er hinzu, ohne weiter ein Gewicht auf diese Erinnerung zu legen:
»Also, meine gute Frau Lambert, ich werde dem Chef sagen, daß er mit dem Herrn Friedensrichter reden möchte, und wenn es sich machen läßt, werde ich selbst mit ihm sprechen; aber ich wiederhole Ihnen, daß er gegen Sie voreingenommen ist.«
Frau Lambert zog sich mit vielen Verbeugungen und Dankbarkeitsbezeugungen zurück.
Als sie fort war, sagte la Peyrade:
»Du scheinst mir nicht zu glauben, daß die Frau nur wegen der Abfassung einer Bittschrift zu mir gekommen ist, und doch ist das die reine Wahrheit; sie gilt in ihrer Straße als eine Heilige, und der Alte, den sie, wie man sie beschuldigt, ausgeplündert hat, wird nach den Erkundigungen, die ich eingezogen habe, nur durch ihre Aufopferung erhalten; aus diesem Grunde hat man der guten Frau in den Kopf gesetzt, daß sie Anspruch auf den Montyonpreis habe, und sie hat mich gebeten, ihr Anrecht auf diese Belohnung zu beweisen und darzulegen.«
»Sieh mal an, den Montyonpreis!« rief Cérizet, »das ist eine Idee, der wir mit Unrecht nicht nachgegangen sind. Vor allem ich, der ich ja der Bankier der Armen bin, wie du ihr Advokat bist. Was deine Klientin anlangt, so kann sie froh sein, daß die Verwandten des alten Picot nicht Mitglieder der französischen Akademie sind, sonst würden sie über ihre Bewerbung um den Tugendpreis von der Sittenpolizei vor der sechsten Kammer entscheiden lassen ... Um aber auf unsere Angelegenheit zurückzukommen, so sagte ich dir doch, daß du nach all deinen Winkelzügen gut tun würdest, ein Ende zu machen, und ich lege dir, ebenso wie die Gräfin, dringend nahe, du Portail aufzusuchen.«
»Aber was ist denn das für ein Mann?« fragte la Peyrade.
»Ein kleiner Alter, fein wie Seide,« antwortete Cérizet, »der aber auf mich den Eindruck macht, als habe er eine Macht wie ein Teufel. Geh nur mal
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