Die Kleinbürger (German Edition)
reich, daß es niemandem gegeben ist, seinen unerschöpflichen Reichtum zu ermessen. Wer dürfte es wagen, zu Gott, dem Unermeßlichen, zu sagen: ›Bis dahin wirst du freigebig und großmütig sein!‹ Jesus Christus hat der Ehebrecherin verziehen, er hat dem armen Schacher den Himmel verheißen, um uns zu beweisen, daß nicht nach menschlichem Ermessen, sondern nach seiner Weisheit und seinem Erbarmen geschehen soll. Mancher, der sich für einen Christen hält, ist vor Gottes Auge darum nichtsdestoweniger ein Götzendiener; und mancher, der für einen Heiden gilt, ist nach seinen Grundsätzen und Handlungen ein Christ, ohne es selbst zu wissen. Unsere heilige Religion zeigt ihren göttlichen Ursprung dadurch, daß aller Edelmut, alle Größe, aller Heroismus nur die Erfüllung ihrer Gebote bedeuten. Ich sagte gestern zu Herrn de la Peyrade, daß die reinen Seelen unvermeidlich einmal zu uns kommen müssen; es handelt sich nur darum, ihnen Frist zu gewähren; ein solches Vertrauen ist eine Anlage zu hohen Zinsen und uns außerdem durch die Pflicht der Nächstenliebe geboten.«
»Oh, mein Gott!« rief Celeste aus, »und das erfahre ich zu spät, wo ich doch damals zwischen Herrn Felix Phellion und Herrn de la Peyrade wählen durfte und nicht gewagt habe, dem Zuge meines Herzens zu folgen! ... Könnten Sie nicht mit meiner Mutter sprechen, Herr Abbé? Ihre Worte sind so überzeugend!«
»Das ist nicht möglich, mein Kind«, erwiderte der Vikar; »wäre ich der Beichtvater der Frau Colleville, so würde ich es vielleicht versuchen, aber man wirft uns schon so oft vor, daß wir uns unvorsichtig in Familienangelegenheiten einmischen! Seien Sie überzeugt, daß ein Dazwischentreten meinerseits, zu dem ich weder einen Grund noch einen Auftrag habe, mehr schaden als nützen würde. Sie und diejenigen, die Sie lieb haben,« fuhr er fort und warf dabei einen Blick auf Frau Thuillier, »müssen sehen, ob die übrigens schon recht weit gediehenen Vorbereitungen noch im Sinne Ihrer Wünsche geändert werden können.«
Es stand geschrieben, daß das arme Kind den bitteren Kelch, den es sich durch seine Unduldsamkeit selbst kredenzt hatte, bis auf die Hefe leeren sollte: kaum hatte der Abbé ausgesprochen, als seine alte Wirtschafterin erschien, um ihn zu fragen, ob er Herrn Felix Phellion empfangen wolle. So wurde, ebenso wie die Verfassung von 1830, die Notlüge der Frau von Godollo zur Wahrheit.
»Kommen Sie hier durch«, sagte der Vikar eilig und führte seine beiden Beichtkinder durch einen Seitengang.
Im Leben findet zuweilen ein so merkwürdiges Zusammentreffen statt, daß manchmal eine Kurtisane und ein Gottesmann in ganz gleicher Weise verfahren.
»Herr Abbé,« sagte Felix zu dem jungen Vikar, als sie einander gegenüberstanden, »ich weiß, in welch freundlicher Art Sie gestern so gütig waren, über mich im Salon des Herrn Thuillier zu sprechen, und ich würde mich beeilt haben, Ihnen meinen Dank dafür auszusprechen, auch wenn mich nicht noch ein anderer Anlaß zu Ihnen geführt hätte.«
Der Abbé Gondrin ging schnell über die Höflichkeitsbezeugungen hinweg und wünschte zu wissen, womit er ihm dienen könne.
»Man hat gestern,« erwiderte der junge Gelehrte, »in einem Sinne, den ich als wohlwollend ansehen will, mit Ihnen über meinen Seelenzustand gesprochen. Die, die so klar in mir lesen zu können glauben, scheinen mein Inneres besser zu kennen als ich selbst; denn seit einiger Zeit fühle ich mich von unerklärlichen und mir bisher unbekannten Beunruhigungen bedrückt. Ich habe nie an Gott gezweifelt; aber mir scheint, daß ich bei der Betrachtung des unendlichen Raumes, in dem er mir erlaubt hat, der Spur eines seiner Werke nachzugehen, einen andern, weniger undeutlichen und unmittelbareren Begriff von ihm bekommen habe, und ich frage mich nun, ob ein rechtschaffenes, ehrenhaftes Leben allein schon die genügende Anerkennung ist, die seine Allmacht von mir erwarten kann. Trotzdem machen sich in meinem Geiste zahllose Einwände gegen den Kultus, dessen Diener Sie sind, geltend, und so sehr ich auch für die Schönheit seiner äußeren Form empfänglich bin, sträubt sich mein Verstand doch gegen viele seiner Vorschriften und Gebräuche. Die Lässigkeit und Saumseligkeit, mit der ich an die Lösung dieser Bedenken herangegangen bin, habe ich teuer, vielleicht mit meinem ganzen Lebensglück, bezahlt. Ich habe nun beschlossen, der Sache auf den Grund zu gehen. Niemand ist besser in der Lage als Sie, Herr
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