Die Klinge des Löwen 02
mit den Vorderhufen.
Gieselbert
war dabei, sich heiser zu schreien. Ida hielt angesichts der
entsetzlichen Gefahr, in der sich ihr Kind und die beiden Erwachsenen
befanden, voller Schrecken eine Hand vor den Mund gepreßt.
Dietrich ging wie in Zeitlupe rückwärts, Klein-Bernhard auf
dem Arm, die Zofe mit sich fortziehend. Giselbert hatte sich
inzwischen mit Todesverachtung bis auf fünf, sechs Schritte an
den Bullen herangewagt. Er schrie und gestikulierte pausenlos, so daß
das Tier in Verwirrung geriet, den mächtigen Schädel wieder
hob und sich dann erneut dem vor ihm herumhüpfenden Schreihals
zuwandte. Für den Augenblick verlor der Auerochs daher Dietrich
und seine Schützlinge aus den Augen. Diese Zeit genügte den
dreien, das Dickicht in ihrem Rücken glücklich zu
erreichen. Der Knabe verhielt sich währenddessen erstaunlich
ruhig, als hätte die Gefahr, in der sie schwebten, sich ihm
mitgeteilt.
„ Geh
in Deckung, Giselbert“, schrie Dietrich, sobald alle drei
zwischen den Jungtannen geborgen und den Blicken des Urs entzogen
waren. Der Stier wandte den Kopf und glotzte auf den leeren Platz, wo
sich bisher die Gruppe der Zweibeiner befunden hatte. Langsam drehte
er den gewaltigen Kopf dann wieder in die Richtung, wo eben noch der
andere Mensch hin und her gehüpft war. Da war auch nichts mehr
zu sehen. Der Koloß streckte seinen Schädel vor und stieß
ein abgehacktes, metallisches Brüllen aus, das er mehrmals in
schnellen Intervallen wiederholte. Es klang, als würde ein Riese
in ein mächtiges Horn blasen und dröhnende Signale
erzeugen. Aber da nichts mehr sich den Blicken des Auerochsen darbot,
ließ er schließlich nur noch ein zorniges Schnauben
hören, wandte sich um und verschwand im Walde.
Die
zurückgebliebenen Menschen konnten aufatmen. Aus ihren
verschiedenen Verstecken kamen sie wieder zum Vorschein und trafen
sich in der Mitte der schneefreien Fläche. Die angebundenen
Rosse waren erstaunlicherweise ruhig geblieben, wahrscheinlich, weil
der Ur keinerlei Notiz von ihnen genommen hatte.
Dietrich
sah sich mißmutig um. „Hier können wir nicht
bleiben. Es wird wohl am besten sein, wenn wir weiterziehen.“
Giselbert
sah ihn verwundert an. „Aber Herr, wie soll Roland uns dann
finden?“
„ Ganz
einfach. Er hat ja den Hund bei sich. Hierher auf den Winterberg
kommt er auf jeden Fall. Wir hinterlassen einen Stoffetzen oder sonst
etwas Auffälliges, den er ihm unter die Nase halten kann, und
dann ist es für den Hund ein leichtes, unsere Fährte
aufzunehmen.“
„ O
ja, Dietrich, das ist ein guter Gedanke!“ Ida war zu dem Ritter
getreten und nickte ihm mit ernster Miene zu. „Keinen
Augenblick länger als nötig möchte ich auf diesem
Platz bleiben. Man ist ja hier seines Lebens nicht sicher!“
Dietrich
lächelte, als er ihr Gesicht mit einem schnellen Blick streifte.
„Es ist doch nichts passiert, Gräfin. Ein Ur tut keinem
etwas zuleide, so lange man ihn nicht reizt.“
„ Ja,
aber Giselbert hat ihn doch gereizt.“
„ Na
ja, das ist schon wahr. Es war aber auch die einzige Möglichkeit,
den Bullen von Eurem Sohn und von Bertha abzulenken.“
„ Hättet
Ihr ihn nicht töten können?“ mischte Bertha sich ein.
„Dann wäre die Gefahr beseitigt und wir könnten
hierbleiben.“
Ida
warf ihrer Zofe einen mißbilligenden Blick zu. „Du denkst
immer nur an deine Bequemlichkeit. Sei froh, daß die Sache so
glimpflich abgelaufen ist!“
„ Einen
gesunden Auerochsbullen zu fällen, ist ohne geeignete Waffen
wohl kaum möglich“, sagte Dietrich brüsk. „Außerdem
bestand dazu keine Veranlassung. Man muß nicht jedes Tier
umbringen, nur weil es seinem Instinkt folgt.“
„ Es
hätte ein gutes Stück Fleisch geliefert“, wandte
Giselbert in bedauerndem Ton ein.
„ Das
mag ja sein“, sagte Dietrich schleppend, denn es begann ihn zu
ärgern, daß man, wie er meinte, wieder einmal seine
Handlungsweise kritisierte. Schließlich war es doch seinem
umsichtigen Vorgehen zu verdanken, daß niemand zu Schaden kam!
Er bedachte den Waffenknecht mit einem kritischen Blick und fuhr
spöttisch fort: „Selbst, wenn es uns gelungen wäre,
den Ur zu erlegen - was glaubst du wohl, was die Folge gewesen wäre?“
Überrascht
von dem Ton, den Dietrich angeschlagen hatte, zog Giselbert
verunsichert die Schultern hoch. „Ich meinte...ich dachte, wir
hätten uns mit Fleischvorrat eindecken können. Mit
frischem, gutem Fleisch!“
„ Und
ein riesiger Kadaver wäre liegen geblieben. Ist
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