Die Klinge
Arbeit nicht machen, wenn Sie mir ständig hinterherlaufen. Das ist völlig unmöglich. Ich muss unbedingt noch ein paar Gespräche führen.«
Die beiden eilten im Laufschritt die Straße entlang. Paula, die ziemlich wütend war, legte ein enormes Tempo vor. Tweed hatte kein Recht, seine Erlaubnis vom Vortag zurückzunehmen. Das würde sie ihm auch ganz deutlich sagen.
»Könnten wir nicht einen Kompromiss schließen?«, fragte Newman.
»Geht nicht. Sie sind bekannt wie ein bunter Hund. Aber was wollten Sie denn vorschlagen?« Paula hatte Bedenken, dass sie vielleicht zu streng mit Newman war. Immerhin hatte er ihr in der Vergangenheit mehrmals das Leben gerettet.
»Was wäre, wenn Sie ins Sprüngli gingen und ich draußen auf Sie warten würde? Vollkommen unauffällig, versteht sich.«
»Na schön, das könnten wir probieren …«
Inzwischen waren sie vor dem Eingang der Konditorei angelangt. Newman ging ein Stück weiter und setzte sich seine dunkle Sonnenbrille auf, die, weil mittlerweile die Sonne schien, niemandem besonders auffallen würde.
Das Einzige, was Paula im Sprüngli nicht gefiel, war der Umstand, dass man, um ins Café zu gelangen, über eine schmale, gefährlich geschwungene Wendeltreppe in den ersten Stock hinaufsteigen muss. Das Erdgeschoss dient als Verkaufsraum der Konditorei. Paula fragte sich, wie es Frauen mit Stöckelschuhen wohl ins Café hinaufschafften. Vermutlich auf Zehenspitzen.
Oben blieb Paula neben der Kasse stehen und warf einen Blick ins Lokal. An diesem Vormittag waren noch nicht viele Gäste da. Wahrscheinlich blieben bei dieser bitteren Kälte viele lieber zu Hause. Gerade als Paula einen freien Tisch ansteuern wollte, blieb sie wie vom Donner gerührt stehen. An einem der Tische saß - mit dem Rücken zu ihr - eine Frau mit Pelzhut. Der Hut hatte dieselbe Form und Farbe wie der, den Elena Brucan häufig aufgehabt hatte.
Ihre Beine fühlten sich auf einmal schwer wie Blei an, als Paula langsam auf die Frau zuging. Sie war weit über achtzig, hatte dünne Lippen und ein faltiges, ungeschminktes Gesicht. Mit bösen Augen funkelte sie Paula an. »Das ist
mein Tisch«, sagte sie auf Deutsch. »Ich erwarte eine Freundin. Setzen Sie sich doch woanders hin, es sind schließlich genügend freie Tische da.«
»Ich wollte Sie auch gar nicht belästigen«, sagte Paula, die perfekt Deutsch sprach, »aber von hinten sahen Sie aus wie eine Frau, die ich gekannt habe.«
Paula entschuldigte sich bewusst nicht bei der Frau, deren Ton ausgesprochen aggressiv gewesen war. Bestimmt stammte sie aus der gehobenen Bürgerschicht der Stadt und bildete sich ein, etwas Besseres zu sein.
Paula suchte sich einen Tisch möglichst weit weg von der alten Dame, und sofort kam eine Kellnerin und nahm ihre Bestellung auf. Es vergingen keine zwei Minuten, da legte sich von hinten eine Hand auf Paulas Schulter. Weil sie es leid war, ständig angefasst zu werden, wirbelte Paula herum und machte ein böses Gesicht. Vor ihr stand Marienetta.
»Ach, Sie sind’s«, brachte Paula mit Mühe hervor.
Marienetta hatte ihren Mantel aus Zobelfell über den Schultern hängen und war mit zwei Tellern beladen. Nachdem sie einen Teller mit einer Cremeschnitte darauf vor Paula auf den Tisch gestellt hatte, nahm sie auf dem Stuhl gegenüber Platz. Als die Kellnerin kam, bestellte sie für sich noch eine Tasse Kaffee. Dann wandte sie sich mit gedämpfter Stimme an Paula.
»Sie sind vorhin bestimmt genauso erschrocken wie ich, als Sie diese Frau dort drüben gesehen haben. Im ersten Moment habe ich geglaubt, sie ist Elena Brucan. Sie auch?«
»Stimmt«, antwortete Paula. Sie sah, dass Marienetta eine zusammengefaltete Zeitung unter den Arm geklemmt hatte. Die Gelegenheit war zu günstig, um nicht nachzuhaken. »Was hat Sie daran denn so erschreckt?«, fragte sie. Marienetta hatte die Tote auf dem Boot schließlich nicht gesehen, und die Polizei hatte den Tatort weiträumig abgesperrt.
»Nun ja, Mrs. Brucan ist schließlich tot.«
»Und woher wissen Sie das?«
»Ganz einfach«, antwortete Marienetta lächelnd und schlug die neueste Ausgabe der Neuen Zürcher Zeitung auf, deren Schlagzeile lautete:
ZÜRICH: ZWEITE ENTHAUPTETE LEICHE IN DER SCHWEIZ GEFUNDEN!
Darunter folgte ein ausführlicher Artikel von Sam Snyder, in dem sogar stand, dass der Mörder den abgehackten Kopf wieder auf dem Rumpf der Leiche platziert hatte. In Ermangelung eines Fotos war der Artikel mit einer Zeichnung von Elena Brucans Kopf -
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