Die Klingen der Rose: Jenseits des Horizonts (German Edition)
Machart, selbst die kleinen Dellen und Abriebe an der Oberfläche verrieten ihr, dass der Kessel mehrere hundert Jahre alt war, vielleicht sogar noch älter. Und er fühlte sich … in ihren Händen … lebendig an.
»Vielleicht haben sie ihn von einem chinesischen Händler erstanden«, schlug er vor.
»Was kannst du mir über ihn erzählen?«, fragte Thalia Oyuun. »Seit wann befindet er sich in deinem Besitz?«
Die Frau des Anführers blickte zu ihrem Mann, der daraufhin antwortete: »Dieser Kessel ist schon immer in unserem Besitz. Ich erinnere mich, wie meine Großmutter darin Tee gekocht hat; sie sagte, dass er ihrer Großmutter gehört hat. Aber wir haben damit schon für den ganzen Stamm Tee gekocht, und niemand ist hinterher krank geworden.«
»Und irgendwelche Gäste?«
»Auch keiner von ihnen.«
»Wisst ihr, ob einer von ihnen … « Thalia brachte es nicht fertig, Bold ins Gesicht zu sehen. Sie konzentrierte sich auf ein bemaltes Schränkchen hinter ihm, räusperte sich und spürte, wie ihr die Hitze in die Wangen schoss. »Haben irgendwelche Gäste … danach … mit jemandem … geschlafen?«
»Wir schlafen alle im Ger zusammen.«
Alle starrten Thalia an. Sie fragte sich, ob man sich aus purer Scham in Luft auflösen konnte. Mongolen sprachen offen über ihr Sexualleben, aber es gab einen sehr englischen Anteil in Thalia, der diese Offenheit als unangenehm empfand. Selbst Gabriel, der ungehobelt wie ein Wolf war, errötete leicht.
»Nicht schlafen«, erläuterte sie mit zusammengebissenen Zähnen, »ein Bett teilen. Zwei Menschen. In einem Bett. Zusammen.«
Das Lächeln, das der Anführer und seine Frau tauschten, löste in Thalia den Wunsch aus, eine trampelnde Pferdeherde möge durch das Zelt jagen. »Ach so«, sagte Oyuun und vergaß vorübergehend ihre Anspannung. »Jedenfalls hat es uns niemand erzählt, und wir haben es nicht gesehen.« Ihr Mann nickte bestätigend.
Trotz ihrer Scham überlief eine seltsame Energie ihren Nacken, während Thalia den Gegenstand in ihren Händen betrachtete. »Ich möchte mir den für einen Augenblick ausleihen.«
Bevor Bold oder Oyuun etwas erwidern konnten, war Thalia draußen. Gabriel holte sie mit seinen langen Schritten leicht ein. »Was denkst du?«, fragte er.
»Ich bin nicht sicher«, erwiderte sie. »Es ist nur ein Gefühl. Aber ich glaube, dass wir letzte Nacht etwas ausgelöst haben.« Als sie sich umdrehte und zu den angeketteten Adlern ging, nickte er. Er verstand. Thalia lächelte vor sich hin. Bei Gabriel brauchte sie keine Worte. Er verstand sie auch so.
Als sie auf die Adler zukamen, begannen die Vögel, unruhig zu werden und ihre Federn aufzuplustern. Je näher sie kamen, desto aufgeregter schienen die Tiere.
Als sie vor den Vögeln standen, tauschten Thalia und Gabriel einen Blick. Er nickte ihr zu, und sie hielt den Kessel nur wenige Zentimeter vor die Adler. Ihre Schreie tönten über die Steppe. Pferde, Kamele und Schafe hoben verwundert den Kopf und unterbrachen ihr Grasen. Auch Männer und Frauen hielten in ihren alltäglichen Aufgaben inne, um zu sehen, was einen solchen Tumult verursachte.
Thalia nahm rasch den Kessel fort, und die Adler beruhigten sich. Zum Test hob Gabriel erneut den Rubin hoch. Die Vögel blieben ruhig. Noch einmal zeigte Thalia den Vögeln den Kessel, und die Stammesmitglieder, einschließlich Batu, traten aus ihren Gers , um zu sehen, was die Vögel zu derartigem Kreischen veranlasste. Bold und Oyuun sahen ebenfalls von dem Eingang ihres Zeltes zu ihnen herüber. »Oh, mein Gott«, keuchte Thalia. »Der Rubin ist nicht die Quelle.«
Gabriel steckte den Rubin in die Innentasche seiner Jacke. Er blickte ihr in die Augen, während ihnen langsam die Tragweite ihrer Entdeckung bewusst wurde. Es war lächerlich und bedeutend zugleich. »Die Quelle, hinter der alle her sind«, er schüttelte den Kopf und lächelte fassungslos, »ist ein verdammter alter Kessel.«
»Magie?«, wiederholte Bold. »Das kann nicht sein.«
»Das mutet seltsam an«, gab Thalia zu, »aber die Vögel irren sich nie. Euer Teekessel besitzt magische Kräfte.«
»Das hätten wir doch gewusst«, schaltete sich Oyuun ein. Sie untersuchte den Kessel wie einen Hund, der plötzlich zu sprechen begann. Mit fragendem Blick sah sie zu Gabriel und Thalia. »Oder etwa nicht?«
Da Gabriel sich mit Magie nicht auskannte, stand er mit verschränkten Armen daneben, während Thalia Bold und Oyuun sowie dem übrigen Stamm alles erklärte. Fast alle
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